Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
»Sie sind fehlgeleitet – was oftmals mit Leidenschaft einhergeht. Nimm dich in Acht, Fledermäuschen. Nimm dich vor der Dummheit der Leidenschaft in Acht.«
»Die League glaubt, dass du all die, die zu alt sind, um hierzubleiben, holst und …«
»Und was, Naif?«
Sie sprach leiser, um nicht anklagend zu klingen. »Sie glauben, dass du uns tötest.«
Missbilligend schürzte Lenoir die Lippen. »Wenn das der Fall ist und wir tatsächlich solche Bösewichte sind, warum habe ich dich dann gerettet? Was ist dein Leben wert, wenn wir doch Mörder sind?«
»Das frage ich mich, Lenoir«, flüsterte Naif. Es war das erste Mal, dass sie ihn mit seinem Namen ansprach. Auf einmal verspürte sie den Drang, ihn zum Reden zu ermuntern, um mehr über Ixion zu erfahren. »Um dich gegenüber den anderen Wächtern zu beweisen? Um Brand deine Stärke zu demonstrieren?«
»Ja, das auch«, gab er offen und ohne Verärgerung zu. »Aber nicht nur. Kannst du den anderen Grund erraten?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht einmal, ob ihr neues befreites Ich den Grund hören wollte. »Auf der Sitzung sagtest du, dass Charlonge bald abgezogen werden würde.«
»Das stimmt, ihre Zeit ist demnächst gekommen. Macht dir das Sorge?«
»Sie hat mir geholfen, so wie vielen anderen auch. Und sie wird sich fürchten.«
Darauf sagte Lenoir nichts.
»Warum macht ihr ein solches Geheimnis daraus? Habt ihr schon mal daran gedacht zu erklären, was mit den Maxern wirklich geschieht? Es ist das Ungewisse – die Unsicherheit, die den Leuten Angst macht. Wenn sie es wissen, wäre vielleicht auch die League kein Problem mehr.«
»So klug und doch so einfältig, Fledermäuschen. Bedeutet Unsicherheit nicht auch … Spannung?« Seine Stimme streichelte sie, wie sanfte Finger über empfindliche Haut. »Brennt ihr nicht gerade deswegen so hell?«
Naif wusste, dass er dem Thema auswich, sie ablenkte. »Aber Geheimnisse zu bewahren, das hat immer auch einen Preis.«
»Um deines Seelenfriedens willen würde ich ja gern sagen, dass die Maxer in die nächste Phase übergehen«, bemerkte Lenoir.
»Die nächste Phase?«
»Des Vergnügens. Ixion ist ein Gegenmittel für das, was die Regeln und Konventionen woanders angerichtet haben. Wir glauben daran, dass es bessere Menschen aus euch macht, wenn ihr euch dem Vergnügen hingebt. Selbstverleugnung, Disziplin und Tugend, das sind Mythen, die erfunden wurden, um euch zu kontrollieren.«
Naif dachte über das nach, was er gesagt hatte. Es stimmte, ihre Erziehung zur Seal hatte sie tatsächlich eingeengt, aber sie hatte ihr auch Sicherheit gegeben. Doch nun war sie eine andere, und sie fragte sich: Würde ihr gefallen, was sie jetzt war? Sie zuckte die Achseln. »Kann sein.«
»Du musst mir vertrauen, dass Altern nichts Schlechtes ist und nach dem Abzug etwas Besseres kommt.«
»Dann solltest du das auch der League sagen.«
»Nicht alle Jugendlichen sind so einfach zu überzeugen und so verständig wie du, kleine Naif. Durch deinen Mangel an Ego bist du so schön aufgeschlossen. Manche brauchen den Kampf oder wenigstens die Aussicht darauf. Manche die Vorstellung, ein Held zu sein. Andere wollen lieber gar nichts wissen. Niemand will die Wahrheit hören.«
War Joel so?, fragte sich Naif. Suchte er den Kampf? Sie hatte ihn nie für den geborenen Aufwiegler gehalten, und doch …
»Ich möchte sie nur schützen, aber indem sie Ruzalia zu Hilfe kommen, bringt sich die League selbst in Schwierigkeiten. Die Piratin ist eine Bedrohung für unseren Lebensstil, für unser ganzes System.«
»Sie sch-schützen? Vor wem denn?«
»Brand ist nicht so tolerant wie ich.«
»Hat sie sich deswegen an Krista-belle vergriffen? Um dich zu provozieren?«
Er kniff die Augen zusammen. Naif konnte sehen, wie seine Stimmung umschwang.
Er stand auf und ging zur Tür. »Ich bin der Anführer der Wächter.«
»Aber mit ihrem Handeln stellt Brand deine Autorität infrage.«
»Ja. Doch sie wird enttäuscht werden.«
20
Graselle kehrte mit frischer Kleidung zurück. Naif bemerkte, dass ihre Augen vom Weinen gerötet waren.
»Graselle?«
Aber Graselle wollte nichts sagen, und nachdem sie Naif beim Ankleiden geholfen hatte, ging sie ohne ein Wort davon.
Kurz darauf traten die beiden Riper herein, die die Tür bewacht hatten. Sie führten Naif durch das Labyrinth der Tunnel bis an die Oberfläche und ließen sie auf dem Bahnsteig in Syn zurück.
Obwohl es erst Stunden her war, dass sie hier mit Rollo und Suki
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