Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
uns in Illi kennengelernt.«
Naif wurde rot vor Verlegenheit. Wie konnte sie nur so dumm sein? Alle Mädchen dachten natürlich, er hätte diesen Song für sie geschrieben. Sie sah es an ihren verträumten Blicken, an den leicht geöffneten Lippen. Das hatte die Musik bewirkt – jeder fühlte sich, als wäre er etwas Besonderes.
Plötzlich stolperte das Mädchen gegen sie. »Mist, tut mir leid!«, sagte sie. »Ich bin geschubst worden.«
Eine Gestalt mit mondweißem Haar in einem schulterfreien Kleid mit Nackenband drängte sich an ihnen beiden vorbei, kletterte über den Lettner und schlenderte zum Altar.
»Für wen hält die sich?«, sagte das Mädchen zornig.
Cal.
Markes glitt zu Boden und war dabei, die Gitarre in den Koffer zu packen. Er blickte zu Cal hinauf, als hätte ihn etwas, das sie sagte, erschreckt. Dann wanderte sein Blick über die Menge, bis er Naif irgendwie wiedergefunden hatte. Er schloss den Kofferdeckel und ging schnurstracks auf sie zu.
Die Mädchen versuchten schreiend, ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch er schien sie nicht zu hören. Er blieb vor Naif stehen und beugte sich zu ihr herunter.
»Ich hab dich schon gesucht. Was ist passiert?«
Naif blickte sich nervös um. »Nicht hier.«
Er runzelte die Stirn und nickte. »Komm.« Er streckte die Hände aus und hob sie über die Schranke. Andere wollten ihnen folgen, doch da erschienen Riper und stießen sie zurück.
»Was machst du hier?«, fragte Cal von hinten.
»Ich will mit Retra reden. Halt meine Gitarre und warte hier«, erwiderte er, während er Naif am Altar vorbei in den dunklen Chor hineinzog.
»Man hat mich durch eine Seitentür hereingebracht. Lass uns da rausgehen.« Wie beiläufig legte er den Arm um ihre Schultern. Ihr Herz schlug schneller. Seit der Fähre war sie ihm körperlich nicht mehr so nah gewesen. Konnte Lenoir sie sehen? Sie warf einen Blick zurück in die hell erleuchtete Kirche. Von hier aus war die Galerie nicht auszumachen.
»Da«, sagte Markes und zeigte zu einer tiefen, dunklen Apsis, in der ein hoher eiserner Ständer stand. Darauf befand sich eine Kerze, die nicht brannte und so breit wie Markes Schultern war.
Als sie näher kamen, senkte Markes das Gesicht zu ihrem herunter und drückte es an ihren Hals. Einen Moment lang war ihr, als hörte sie dieselbe Melodie, die er eben gespielt hatte. Ihr Kopf wandte sich um, und ihr Herz tat einen Sprung.
»Was …?«
Er hob den Kopf und spähte durch seine Ponylocken in das Licht in ihrem Rücken. »Falls uns jemand beobachtet«, sagte er, »sieht es so aus, als würden wir … das tun, was alle anderen hier auch machen.«
Naif wollte die Hände hochstrecken und sein Gesicht wieder zu sich ziehen, doch da fuhren brennend heiße Finger durch Agios hindurch und schlossen sich wütend um ihre Kehle. Lenoir! Sie schnappte nach Luft und wich vor Markes zurück.
Doch der schien nichts zu bemerken, sondern konzentrierte sich nun ganz darauf, sie hinter die Statue und zum Umriss einer Tür zu führen, an deren Schloss er sich einen Moment zu schaffen machte, bevor sie aufschwang.
Naif trat als Erste hindurch.
Er folgte ihr in die warme Nacht und blieb im Lichtkegel einer Laterne stehen. Von dort, wo sie sich befanden, führten mehrere schwach schimmernde Pfade über den Hang und in die Tiefe.
Jetzt, da sie wirklich allein waren, ließ Markes sie los und zog das schweißfeuchte Hemd aus dem Bund seiner Hose. Er schob die Hände in die Taschen und trat unter leicht gekrümmten Schultern mit der Stiefelspitze gegen den Boden.
»Warum hast du zu verhindern versucht, dass ich dem Komitee beitrete? Du benimmst dich irgendwie komisch in meiner Nähe. So wie in Vank.«
Sie konnte ihm doch nichts von den Dämonen sagen. Selbst Suki hatte es nicht verstanden. »Damals in Vank hatte Modai mich gezwungen, eine ganze Verzückungspastille zu essen. Ich wusste nicht mehr, was ich tat.«
Er hob den Kopf, offenbar überrascht. »Warum hat er das getan?«
Naif zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, aber er scheint mich zu verfolgen und zu beobachten.« Sie erschauderte. »Bei dieser Sitzung hatte ich eine Vorahnung. Du weißt schon, es war ganz plötzlich so, als könnte dir etwas Schlimmes zustoßen.«
»Aber es ist eine Ehre, Mitglied des Komitees zu werden. Cal sagt, du wärst nur eifersüchtig.« Er runzelte die Stirn. »Ich glaube allerdings, so bist du nicht. Oder doch?«
»Die Riper wollen dich und Charlonge als Köder benutzen, um Ruzalia zu
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