Rette mich vor dir
mich unverwandt an.
Ich kann nicht sprechen. Bringe kein Wort hervor.
»Er sagt, es sei wegen dir.« James sieht aus, als warte er auf Widerspruch. »Hast du ihm auch aus Versehen weh getan? Er war in der Krankenstation, hast du das gewusst? Er war krank.«
Ich habe das Gefühl, als müsse ich auf der Stelle in Stücke brechen. Aber ich kann James nicht anlügen. »Ja«, sage ich. »Ich habe ihn aus Versehen verletzt, aber jetzt – j-jetzt halte ich mich von ihm fern. Damit ich ihm nicht mehr weh tun kann.«
»Warum ist er dann immer noch so traurig? Wenn du ihm doch gar nicht mehr weh tun kannst?«
Ich schüttle den Kopf, presse die Lippen zusammen, weil ich nicht weinen will und nicht weiß, was ich antworten soll. Und James scheint mich zu verstehen.
Er legt die Arme um mich.
Umfasst meine Taille. Sagt mir, dass ich nicht weinen soll, dass er mir glaubt. Dass ich Adam aus Versehen verletzt habe. Und auch den kleinen Jungen. Und dann sagt er: »Sei vorsichtig heute, ja? Aber du solltest die auch ordentlich in den Arsch treten, okay?«
Ich bin völlig verblüfft. Und begreife erst etwas verspätet, dass James nicht nur soeben ein unanständiges Wort benutzt, sondern mich auch zum ersten Mal berührt hat. Ich halte ihn so lange fest, wie es gut ist, ohne für ihn peinlich zu werden. Aber mein Herz muss noch irgendwo geschmolzen am Boden liegen.
Und da wird mir bewusst, dass alle Bescheid wissen.
Als James und ich zusammen den Speisesaal betreten, merke ich sofort, wie die Blicke sich verändert haben. Ich sehe Stolz, Kraft und Anerkennung in den Augen. Weder Angst noch Misstrauen. Ich bin jetzt offiziell eine von ihnen. Ich werde mit ihnen, für sie kämpfen, gegen denselben Feind.
Ich kann den Ausdruck in ihren Augen deuten, weil ich mich wieder an dieses Gefühl erinnern kann.
Hoffnung.
Süß wie ein Tropfen Honig, schön wie ein Tulpenfeld im Frühling. Milder Regen, eine geflüsterte Verheißung, wolkenloser Himmel, das perfekte Zeichen am Ende eines Satzes.
Und nur das erhält mich am Leben.
30
»Eigentlich sollte das alles anders ablaufen«, sagt Castle, »aber Pläne werden eben häufig zunichtegemacht.« Adam, Kenji und ich werden für den Kampf ausgestattet. Wir sind mit 5 anderen, die ich noch nie getroffen habe, in einem der größeren Trainingsräume. Die 5 sind für Waffen und Schutzausrüstung zuständig. Ich finde es beeindruckend, dass in Omega Point jeder Einzelne eine Aufgabe hat. Teil der Gruppe ist.
Alle arbeiten im Team.
»Wir wissen ja noch nicht genau, wann und wodurch Ihre speziellen Kräfte zum Einsatz kommen, Ms Ferrars«, fährt Castle fort, »aber ich hoffe, dass es zum richtigen Zeitpunkt geschehen wird. Diese Art von Extremstress ist ideal, um Ihre Energien zu aktivieren – übrigens haben auch achtundsiebzig Prozent aller Mitglieder von Omega Point berichtet, dass sie ihre Fähigkeit in Gefahrensituationen entdeckt haben.«
Macht Sinn, denke ich. Sage aber nichts.
Castle nimmt von einer der Frauen, Alia, etwas in Empfang. »Und Sie sollten sich keine Sorgen machen«, fügt er hinzu. »Wir sind immer in Ihrer Nähe, falls Sie Hilfe brauchen.«
Ich weise ihn nicht darauf hin, dass ich keinerlei Sorge zum Ausdruck gebracht habe. Jedenfalls nicht in Worten.
»Hier sind Ihre neuen Handschuhe«, verkündet Castle und reicht sie mir. »Probieren Sie mal, ob sie passen.«
Die neuen Handschuhe sind kürzer und weicher, reichen genau bis zum Handgelenk und lassen sich jeweils mit einem Druckknopf schließen. Sie fühlen sich dicker und etwas schwerer an, sitzen aber perfekt. Ich balle die Hand zur Faust. Lächle. »Die sind fantastisch«, sage ich. »Winston hat sie entwickelt, oder?«
Castles Miene wird ernst. »Ja«, sagt er leise. »Gestern hat er sie fertiggestellt.«
Winston.
Als ich damals in Omega Point erwachte, war sein Gesicht das Erste, was ich wahrnahm. Die schiefe Nase, die Plastikbrille, die rotblonden Haare. Ich denke an seine Kaffeesucht.
Und an die zerbrochene Brille in dem Tornister.
Ich frage mich, was Winston zugestoßen ist.
Alia kehrt mit etwas zurück, das wie ein Gurtzeug aus Leder aussieht. Ich muss die Arme hochheben, und sie hilft mir, das Ding anzulegen. Ein Holster. Die breiten Schultergurte teilen sich auf halber Höhe des Rückens, und unterhalb der Brüste umspannen zig schmale überlappende Lederbänder meinen Brustkorb. Das Ganze erinnert an einen BH ohne Körbchen oder an ein unvollständiges Bustier. Alia schließt die Schnallen
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