Rette mich vor dir
können.«
Ich muss ein bisschen grinsen. »Ich lass dich jetzt los.«
»Hey – viel Glück«, sagt Kenji ungewohnt sanft. »Wir bleiben direkt hinter dir.«
»Juliette –«
Ich zögere, als ich Adams Stimme höre. Er scheint etwas sagen zu wollen, überlegt es sich dann aber offenbar anders. Räuspert sich. Flüstert: »Versprich mir, vorsichtig zu sein.«
»Mach ich«, erwidere ich leichthin. Verbiete mir, mich meinen Gefühlen hinzugeben. Nicht jetzt. Ich muss mich konzentrieren.
Ich atme tief ein.
Trete einen Schritt vor.
Lasse Kenjis Hand los.
Noch
10 Sekunden, und ich versuche ruhig zu atmen
9
ich spreche mir Mut zu
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aber ich habe entsetzliche Angst
7
und ich weiß nicht, was mich hinter dieser Tür erwartet
6
bestimmt bekomme ich einen Herzinfarkt
5
aber es gibt kein Zurück mehr
4
denn ich bin da
3
die Tür ist direkt vor mir
2
ich muss nur klopfen
1
doch die Tür wird plötzlich aufgerissen.
»Oh, gut«, sagt er. »Sie sind pünktlich.«
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»Sehr erfreulich«, fährt er fort, »dass die Jugend Pünktlichkeit noch zu schätzen weiß. Es frustriert mich immer, wenn man meine Zeit vergeudet.«
Spitze Glassplitter scheinen durch meinen Kopf zu wirbeln. Ich nicke wie in Zeitlupe, blinzle wie eine Idiotin, finde keine Worte, weil ich sie verloren habe oder weil es sie nie gab oder weil ich einfach nicht sprechen kann.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.
Vielleicht, dass er alt und gebeugt und halb blind ist. Oder dass er eine Augenklappe trägt und am Stock geht. Braune Zähne, runzlige Haut, schütteres Haar hat. Oder vielleicht ein Zentaur, ein Einhorn, eine alte Hexe mit einem spitzen Hut ist. Alles alles alles, nur das nicht. Das ist nicht möglich. Das ist nicht normal. Ich kann es nicht begreifen. Was ich erwartet habe, war jedenfalls so absolut falsch, unglaublich und absurd und komplett falsch.
Vor mir steht ein atemberaubend schöner Mann.
Und er ist ein Mann .
Er muss mindestens 45 Jahre alt sein, ist groß und muskulös und trägt einen perfekt sitzenden Anzug. Seine Haare sind dicht und glatt und haselnussfarben; das Gesicht ist vollkommen symmetrisch, mit kantigem Kinn und markanten Wangenknochen. Doch am auffallendsten sind seine Augen. Noch nie habe ich solche unglaublichen Augen gesehen.
Sie sind beinahe aquamarinblau.
»Bitte«, sagt er und wirft mir ein charmantes Lächeln zu. »Kommen Sie herein.«
Und dann erst wird es mir richtig bewusst, weil plötzlich alles zusammenpasst. Das Aussehen; die Statur; das formvollendete Benehmen. All das verführt dazu zu vergessen, dass er ein böser Mensch ist – dieser Mann .
Dieser Mann ist Warners Vater.
Ich folge ihm in ein kleines Wohnzimmer. Abgewetzte Sofas und Sessel sind um einen kleinen Couchtisch angeordnet. Die vergilbte Tapete blättert ab, und es riecht so muffig und schimmlig, als seien die gesprungenen Glasfenster jahrelang nicht geöffnet worden. Der Teppichboden ist dunkelgrün, die Wände sind mit unechten Holztäfelungen verkleidet. Das Haus ist schäbig und geschmacklos, und ich frage mich, weshalb ein Mann wie Warners Vater sich hier aufhält.
»Ach, Augenblick«, sagt er. »Eine Sache noch.«
»Wa–«
Er presst mich an die Wand, drückt mir die Kehle zu. Seine Hände sind durch Lederhandschuhe geschützt. Er hat sich offenbar darauf vorbereitet, mich anzufassen, mich zu erwürgen, und ich bin ganz sicher, dass ich sterben werde. So muss sich das anfühlen. Ich versuche mit letzter Kraft nach ihm zu schlagen und zu treten, dann gebe ich auf, verfluche mich, weil ich so dumm war, mir einzubilden, ich könnte hier irgendetwas ausrichten – bis ich merke, dass er sämtliche Waffen aus meinem Holster gezogen und sie in seine Taschen gesteckt hat.
Er lässt mich los.
Ich sinke zu Boden.
Er sagt, ich solle doch Platz nehmen.
Ich schüttle den Kopf, huste, um den Schmerz aus meiner Lunge zu vertreiben, sauge mühsam die modrige Luft ein, keuchend und ächzend, würgend vor Schmerz. Ich war keine 2 Minuten im Haus, und er hat mich schon überwältigt. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich das Ganze lebend überstehen kann, ohne dass Adam und Kenji eingreifen müssen.
Ich schließe für einen Moment die Augen. Um mich auf das Atmen zu konzentrieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Als ich schließlich aufschaue, sehe ich, dass Warners Vater sich auf einem der Sessel niedergelassen hat und mich amüsiert anstarrt.
»Wo sind die Geiseln?«, krächze ich.
»Denen geht es
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