Rette mich vor dir
Mensch, macht mir mehr Angst als alles andere.
Der Oberste wird ungeduldig. »Setz dich«, sagt er zu seinem Sohn und weist auf den Sessel, auf dem er selbst gerade gesessen hat.
Warner bleibt stumm.
Sein Blick verharrt auf meinem Gesicht, meinem Körper, den Riemen unter meiner Brust; schweift über meinen Hals, über die Spuren, die sein Vater dort vermutlich hinterlassen hat. Schließlich schluckt er mühevoll. Reißt den Blick los, bewegt sich vorwärts. Er ist seinem Vater so ähnlich, fällt mir auf. Sein Gang, seine Kleidung, das gepflegte Äußere. Dennoch hege ich keinerlei Zweifel, dass Warner den Mann verabscheut, dem er wider Willen so sehr gleicht.
»Ich hätte gerne eine detaillierte Schilderung Ihrer Flucht«, sagt der Oberste jetzt und sieht mich an. »Das interessiert mich brennend, und mein Sohn hat es mir sehr schwer gemacht, Genaueres in Erfahrung zu bringen.«
Ich blinzle verwirrt.
»Wie sind Sie geflüchtet?«, fragt er.
»Beim ersten oder beim zweiten Mal?«
»Zweimal? Sie haben es zweimal geschafft zu entkommen?« Er lacht lauthals, schlägt sich aufs Knie. »Unglaublich. Dann beide Male. Wie ist Ihnen das gelungen?«
Ich frage mich, wieso er so viel Zeit verschwendet. Warum er hier reden will, während so viele Leute draußen auf den Krieg warten, und ich kann nur hoffen, dass die anderen nicht schon erfroren sind. Und ich habe zwar keinen Plan, aber eine Vermutung. Ich glaube, dass die Geiseln in der Küche sein könnten. Deshalb beschließe ich, Warners Vater noch eine Weile bei Laune zu halten.
Ich berichte, dass ich beim ersten Mal aus dem Fenster geklettert bin. Und dass ich Warner beim zweiten Mal angeschossen habe.
Das Lächeln erstirbt. »Sie haben auf ihn geschossen ?«
Ich werfe einen kurzen Blick auf Warner. Er starrt mich an, sein Gesicht ist ausdruckslos. Ich habe keine Ahnung, was er denkt. Und will das plötzlich so dringend wissen, dass ich seinen Vater provoziere.
»Ja«, antworte ich und schaue dabei Warner an. »Ich habe auf ihn geschossen. Mit seiner eigenen Pistole.« Warners Gesicht wirkt plötzlich angespannt, seine gesunde Hand ballt sich zur Faust.
Der Oberste fährt sich durchs Haar, reibt sich das Kinn. Zum ersten Mal seit meinem Eintreffen wirkt er beunruhigt, und ich frage mich, weshalb er nicht informiert ist über meine Flucht. Frage mich, ob Warner ihm vielleicht einen anderen Grund für den verletzten Arm genannt hat.
»Wie heißen Sie?«, frage ich, bevor ich mir selbst Einhalt gebieten kann. Ich sollte keine dämlichen Fragen stellen, aber ich möchte den Mann nicht weiter als den »Obersten« betrachten, als sei er eine unberührbare Größe.
Warners Vater schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie ich heiße ?«
Ich nicke.
»Sie dürfen mich Oberbefehlshaber Anderson nennen«, antwortet er, sichtlich irritiert. »Wieso interessiert Sie das?«
» Anderson ? Aber ich dachte, Ihr Nachname sei ›Warner‹?«
Anderson holt tief Luft und wirft einen angewiderten Blick auf seinen Sohn. »Keineswegs«, antwortet er. »Mein Sohn fand es gut, den Namen seiner Mutter anzunehmen, weil er eben auf solche dumme Ideen kommt. Er macht immer und immer wieder«, fährt er mit erhobener Stimme fort, »denselben Fehler – gibt seinen Gefühlen Vorrang vor seiner Pflicht. Erbärmlich«, sagt er mit schneidender Stimme zu Warner. »Weshalb, meine Liebe, ich Ihnen leider sagen muss, dass Sie ihn zu sehr ablenken – so gerne ich Sie leben lassen würde. Aber ich kann nicht zulassen, dass er eine Person schützen will, die versucht hat, ihn umzubringen .« Er schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass ich ein solches Gespräch überhaupt führen muss. Dass er mich in so eine peinliche Lage gebracht hat.«
Anderson zieht eine Pistole aus der Tasche, richtet sie auf meine Stirn.
Überlegt es sich anders.
»Ich bin es leid, ständig hinter dir aufzuräumen«, fährt er Warner an und zerrt ihn aus dem Sessel hoch. Schiebt ihn zu mir, drückt ihm die Pistole in die unversehrte Hand.
»Erschieß sie«, sagt er. »Jetzt sofort.«
36
Warner fixiert mich.
Er sieht so gequält aus, dass er mir regelrecht fremd erscheint. Ich weiß nicht, ob ich ihn verstehe, weiß nicht, was er tun wird. Doch dann hebt er mit ruhiger Hand die Pistole und richtet sie auf mein Gesicht.
»Beeil dich«, sagt Anderson. »Je schneller du das erledigst, desto schneller kommst du hier weg. Nun mach schon –«
Doch Warner legt den Kopf schief. Dreht sich um.
Richtet
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