Rette mich vor dir
er sich uns wieder angeschlossen hat.
Ich habe ihm gezeigt, wie leicht es mir inzwischen gelingt, Dinge zu zerstören.
Ziegelsteine fühlen sich für mich an, als zerdrücke ich ein Stück Kuchen. Metallrohre verbiege ich wie Strohhalme. Holz ist ein bisschen kniffliger, weil ich manchmal ein paar Splitter abkriege, wenn ich es auf die falsche Art zerbreche. Doch ich bewältige das alles inzwischen mühelos. Kenji untersucht mittlerweile neue Aspekte meiner Fähigkeiten; er will herausfinden, ob ich auch projizieren, das heißt meine Kraft aus weiterer Entfernung einsetzen kann.
Offenbar sind nicht alle Fähigkeiten zur Projektion geeignet. Lily zum Beispiel verfügt über dieses fantastische fotografische Gedächtnis, aber sie wird diese Kraft niemals auf jemanden übertragen können.
Projektion ist bislang die schwierigste Aufgabe, die mir gestellt wurde. Sie ist mental und körperlich extrem fordernd. Ich muss dabei absolut konzentriert sein, und mein Geist muss mit jedem Teil meines Körpers in Verbindung stehen, aus dem meine Kraft bezogen wird. Was bedeutet, dass ich die Quelle der Kraft genau spüren muss – und auch imstande sein muss, sie jederzeit anzuzapfen.
Das ist so anstrengend, dass mir davon der Kopf weh tut.
»Kann ich auch mal versuchen, was zu zerbrechen?«, fragt James. Nimmt sich einen Ziegel von dem Stapel und wiegt ihn in der Hand. »Vielleicht bin ich auch so superstark wie du.«
»Hast du dich jemals so gefühlt?«, fragt Kenji ihn. »Ich meine, außergewöhnlich stark?«
»Nee«, antwortet James. »Aber ich hab auch noch nie probiert, was zu zerbrechen.« Er blinzelt. »Meint ihr, ich könnte wie ihr sein? Auch eine besondere Kraft haben?«
Kenji betrachtet ihn forschend. Scheint zu überlegen. Dann sagt er: »Möglich wäre das auf jeden Fall. Dein Bruder hat jedenfalls etwas in seinen Genen. Das könnte also auf dich auch zutreffen.«
»Echt?« James hopst auf und ab vor Freude.
Kenji gluckst. »Keine Ahnung. Ich sag ja bloß, es wäre mö – nein, James«, schreit er, »tu das nicht –«
»Autsch.« James zuckt zusammen, lässt den Ziegel fallen und ballt die Hand zur Faust, um einen klaffenden Riss zu verstecken. »Ich glaub, ich hab zu fest gedrückt und bin dabei ausgerutscht –«
»Du glaubst ?« Kenji schüttelt aufgeregt den Kopf. »Junge, du kannst dir nicht einfach so die Hand aufreißen. Ich krieg ja gleich einen Herzinfarkt. Komm her«, fügt er ruhiger hinzu. »Ich muss das mal anschauen.«
»Ist nichts«, erwidert James. Er ist rot geworden und versteckt die Hand hinter dem Rücken. »Gar nicht schlimm. Ist gleich wieder weg.«
»So eine Wunde heilt nicht so schnell«, widerspricht Kenji. »Nun zeig schon her –«
»Warte mal«, falle ich ihm ins Wort, weil mir auffällt, wie konzentriert James wirkt, wie fest er die Faust hinter dem Rücken ballt. »Was meinst du mit ›ist gleich wieder weg?‹, James? Meinst du, das heilt von selbst wieder?«
James blinzelt. »Ja, schon«, antwortet er. »Das geht immer ganz schnell.«
»Was? Was geht immer ganz schnell?« Kenji starrt James an, wirft mir dann einen Blick zu, weil er begreift, was ich vermute.
»Wenn ich mich verletze«, sagt James und schaut uns beide an, als seien wir nicht recht bei Trost. »Wenn du dich schneidest«, fragt er dann Kenji, »heilt das nicht gleich wieder?«
»Kommt auf den Schnitt an«, antwortet Kenji. »Aber eine Wunde von dieser Größe?« Er schüttelt den Kopf. »Die müsste ich säubern, um einer Entzündung vorzubeugen. Dann würde ich Salbe auftragen, damit sich keine Narbe bildet, und sie dann verbinden. Und dann«, fügt er hinzu, »würde es mindestens einige Tage dauern, bis sie verschorft. Danach beginnt dann der eigentliche Heilungsprozess.«
James sieht so verdattert aus, als habe er etwas derartig Absurdes noch nie zuvor gehört.
»Zeig mir deine Hand«, sagt Kenji.
James zögert.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sage ich zu ihm. »Ehrlich. Wir sind nur neugierig.«
Ganz langsam öffnet James die Faust. Löst die Finger und lässt uns dabei nicht aus den Augen. Und an der Stelle, an der kurz zuvor noch der breite Riss aufklaffte, sieht man nichts mehr außer makelloser rosa Haut und einem kleinen Blutstropfen.
»Heiliger Strohsack«, schnauft Kenji verblüfft. »Tut mir leid«, sagt er zu mir und packt dabei James’ Arm, während sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet, »aber ich muss das Kerlchen hier auf die Krankenstation bringen. Geht das
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