Rette mich vor dir
zuckt die Achseln, schaut ins Leere. »Es wundert mich nur, dass ein Mädchen, das sein Leben lang so isoliert war, Zugang zu Büchern hatte. Vor allem in unserer Gesellschaft.«
Ich bleibe stumm.
Er auch.
Ich lasse ein paar Atemzüge verstreichen, bevor ich antworte.
»Ich … konnte mir keine Bücher aussuchen.« Ich frage mich, weshalb ich so nervös bin, dass ich beinahe flüstere. »Ich habe gelesen, was mir in die Finger kam. In den Schulen gab es immer kleine Büchereien, und meine Eltern hatten einiges zuhause. Und später …« Ich zögere. »Später war ich einige Jahre in Kliniken und Psychiatrien und einer J-Jugendstrafanstalt.« Ich werde wieder einmal rot, immer noch jederzeit bereit, mich meiner selbst, meiner Vergangenheit, meiner Zukunft zu schämen.
Doch es ist seltsam.
Ein Teil von mir tut sich schwer damit, so aufrichtig zu sein. Aber ein anderer fühlt sich wohl bei diesem Gespräch mit Warner. Entspannt. Vertraut.
Denn er weiß ohnehin schon alles über mich.
Jede Einzelheit aus meinem 17-jährigen Leben. Er kennt meine Krankenakten, weiß Bescheid über alle Zwischenfälle mit der Polizei, über die schlimme Beziehung, die ich zu meinen Eltern habe hatte. Und nun hat er auch noch mein Notizheft gelesen.
Nichts aus meiner Vergangenheit könnte ihn überraschen, erschüttern, schockieren. Ich fürchte nicht, dass er mich verurteilen oder vor mir davonlaufen wird.
Diese Erkenntnis erschreckt mich.
Und erleichtert mich .
»Man kam immer irgendwie an Bücher«, fahre ich fort, kann mich jetzt nicht mehr bremsen. Starre auf den Boden. »In der Strafanstalt. Die meisten waren alt und zerlesen und hatten keinen Einband, so dass ich manchmal Titel und Autor nicht herausfinden konnte. Ich las einfach alles, was ich bekommen konnte. Märchen und Krimis und historische Bücher und Gedichte, und alles immer wieder von vorn. Die Bücher … haben mir dabei geholfen, nicht komplett verrückt zu werden.« Ich verstumme. Gebiete mir Einhalt, als ich merke, wie sehr ich mich ihm öffnen will. Warner.
Dem schrecklichen Warner, der versucht hat, Adam und Kenji zu töten. Der mich zu seinem Werkzeug machen wollte.
Ich bin entsetzt, dass ich mich sicher genug fühle, so aufrichtig zu sein. Dass Warner der einzige Mensch ist, vor dem ich nichts verbergen will. Adam will ich unwillkürlich immer vor mir beschützen, vor der grauenhaften Geschichte, die mein Leben ist. Ich versuche ständig, ihn nicht zu erschrecken, ihm nichts Falsches zu erzählen, damit er es sich nicht anders überlegt, damit ihm nicht bewusst wird, wie gefährlich es ist, mir zu vertrauen, mir Zuwendung zu geben.
Doch vor Warner habe ich nichts zu verbergen.
Ich möchte seinen Gesichtsausdruck sehen, möchte wissen, was er jetzt empfindet, nachdem ich mich geöffnet, ihm Einblick in meine Vergangenheit gewährt habe, aber ich kann mich nicht dazu bringen aufzublicken. Ich sitze nur erstarrt da, Scham hockt auf meinen Schultern, und Warner gibt keinen Ton von sich, bewegt sich nicht. Sekunden fliegen vorbei, flattern durch den Raum, und ich möchte sie alle verscheuchen; möchte sie fangen und in meine Taschen stecken, um die Zeit anzuhalten.
Dann bricht Warner das Schweigen.
»Ich lese auch gern«, sagt er.
Ich schaue erstaunt auf.
Er streicht sich durchs Haar. Lässt die Hand sinken. Sieht mich an. Dieses leuchtende Grün.
»Du liest gerne?«, frage ich.
»Wundert dich das?«
»Ich dachte, das Reestablishment will all das vernichten. Ich dachte, Lesen wäre illegal.«
»Ist es auch«, erwidert er, bewegt die Beine ein wenig. »Und die Bücher werden auch bald alle vernichtet sein. Sie haben ja schon damit begonnen.« Er sieht aus, als wäre ihm das unangenehm. »Seltsamerweise«, sagt er, »habe ich erst zu lesen begonnen, als die Vernichtungspläne vorlagen. Ich sollte Listen durchgehen und meine Meinung dazu kundtun, was man behalten könnte, um es für künftige Kampagnen und so etwas zu nutzen, und was vernichtet werden sollte.«
»Findest du das in Ordnung?«, werfe ich ein. »Dass die Kultur – die Sprachen – all diese Texte zerstört werden? Bist du damit einverstanden?«
Er spielt wieder mit meinem Notizheft. »Es … gibt vieles, was ich anders machen würde, wenn ich entscheiden könnte«, antwortet er. Holt tief Luft. »Aber ein Soldat muss nicht immer zustimmen, um zu gehorchen.«
»Was würdest du anders machen?«, frage ich. »Wenn du könntest?«
Er lacht. Seufzt. Schaut mich an, ein kleines Lächeln
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