Rette mich vor dir
vorschlagen will weiterzuziehen, hören wir, wie eine Tür aufgerissen wird.
»Das ist die Letzte«, brüllt jemand. »Hat sich hier versteckt.« Ein Soldat zerrt eine weinende Frau aus dem Haus, an dem wir lehnen. Sie schreit, fleht um Gnade, fragt nach ihrem Mann, und der Soldat fährt sie an, dass sie still sein soll.
Ich muss mich beherrschen, damit meine Gefühle nicht aus meinen Augen, meinem Mund quellen.
Ich bleibe stumm.
Halte die Luft an.
Ein anderer Soldat kommt angerannt. Schreit etwas, macht eine Handbewegung, die ich nicht verstehe. Ich spüre, wie Kenji neben mir erstarrt.
Etwas stimmt nicht.
»Schmeiß sie zu den anderen«, schreit der zweite Soldat. »Dann ist die Gegend hier sauber.«
Die Frau kreischt hysterisch, kratzt und schlägt um sich. Sie hat nichts getan, schreit sie, sie versteht das alles nicht, wo ist ihr Mann, sie hat überall nach ihrer Tochter gesucht, und was ist los? Sie weint und schreit und trommelt mit Fäusten auf den Soldaten ein.
Der drückt ihr den Lauf seiner Pistole an den Hals. »Wenn du nicht ruhig bist, erschieß ich dich auf der Stelle.«
Die Frau wimmert, dann erschlafft ihr Körper. Sie ist ohnmächtig, und der Soldat schleift sie mit angewiderter Miene außer Sichtweite. Ich verstehe nicht, was hier geschieht.
Wir folgen den Soldaten.
Wind und Regen werden heftiger, und wir sind weit genug entfernt, um unbemerkt sprechen zu können. Kenji ist noch immer verbunden mit Adam und mir, projiziert seine Kraft, damit wir alle unsichtbar sind. Ich drücke Kenjis Hand. »Was passiert hier?«, raune ich.
Er antwortet nicht sofort.
»Sie treiben die Leute zusammen«, sagt er dann. »In Gruppen, damit sie möglichst viele auf einmal töten können.«
»Die Frau –«
»Ja.« Er räuspert sich. »Ja, sie und alle, die an den Aufständen beteiligt waren. Sie töten nicht nur die Anführer, sondern auch deren Freunde und Familienmitglieder. Das ist eine bekannte Methode, um Angst zu verbreiten und Widerstand zu ersticken.«
Ich muss heftig schlucken, um meine Übelkeit niederzuringen.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, sie zu befreien«, sagt Adam. »Vielleicht können wir die Wachsoldaten ausschalten.«
»Ja, aber ihr wisst, dass ich euch jetzt loslassen muss, oder? Ich verliere schon Kraft; meine Energie lässt schneller nach als sonst. Ihr werdet also sichtbar sein«, sagt Kenji. »Und damit gefährdeter.«
»Welche Möglichkeiten bleiben uns denn?«, frage ich.
»Wir könnten sie aus dem Hinterhalt erledigen«, antwortet Kenji. »Wir müssen nicht in den Nahkampf gehen.« Er hält inne. »Juliette, du warst noch nie in einer solchen Situation. Falls du dich nicht direkt am Kampfgeschehen beteiligen willst, habe ich volles Verständnis dafür. Nicht jeder kann das verkraften, was wir vielleicht zu sehen kriegen, wenn wir diesen Soldaten folgen. Es ist nicht ehrenrührig, wenn du das vermeidest.«
Ich habe einen metallischen Geschmack im Mund, als ich lüge. »Ich werd das schon hinkriegen.«
Er bleibt einen Moment stumm. »Nur – okay – aber scheu dich nicht, deine Kräfte zur Verteidigung einzusetzen«, sagt er. »Ich weiß, dass du da diese komischen Vorbehalte hast, von wegen, du willst niemandem weh tun und so, aber diese Typen fackeln nicht lange. Die werden versuchen, dich umzubringen.«
Ich nicke, obwohl Kenji mich nicht sehen kann. »Ja«, sage ich. »Mach ich.« Aber ich kann vor Angst nicht mehr klar denken.
»Ich bin bereit«, flüstere ich.
65
Ich spüre meine Knie nicht mehr.
Auf einem kahlen Feld sind 27 Menschen in einer Reihe aufgestellt. Männer, Frauen, Kinder, alle unterschiedlichen Alters. Ihnen gegenüber steht ein Erschießungskommando, bestehend aus 6 Soldaten. Der Regen stürzt vom Himmel, bombardiert uns mit Tropfen, so hart wie meine Knochen, und der Wind tobt.
Die Soldaten beraten, was sie tun sollen. Wie sie die Leute töten sollen. Wie sie 27 Augenpaare, die sie anstarren, vernichten wollen. Einige der Menschen schluchzen, schlottern vor Angst und Grauen, andere halten sich aufrecht, stoisch im Angesicht des Todes.
Einer der Soldaten schießt.
Ein Mann stürzt zu Boden, und ich fühle mich, als träfe mich ein Peitschenschlag. In diesen wenigen Sekunden durchlaufe ich so viele Gefühle zugleich, dass mir schwarz vor Augen wird, doch ich kämpfe wie ein Tier dagegen an, schlucke die Tränen hinunter, versuche den stechenden Schmerz in meinem Inneren nicht zu spüren.
Ich verstehe nicht, weshalb niemand sich
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