Rette mich
»Du willst, dass eine Blutsverwandte deine Armee anführt? Nimm doch Marcie. Ihr gefällt es, Leute herumzukommandieren. Es würde zu ihr passen.«
»Ihre Mutter ist ein reinrassiger Nephilim.«
»Das ist mir neu, aber umso besser. Das macht Marcie doch bestimmt auch reinrassig?« Nettes kleines Rassistentrio.
Hanks Lachen hörte sich immer müder an. »Wir hätten nie erwartet, dass Susanna schwanger würde. Reinrassige Nephilim können sich nicht erfolgreich fortpflanzen. Wir wussten von Anfang an, dass Marcie eine Art Wunder war und nicht lang leben würde. Sie trug mein Zeichen nicht. Sie war immer schon klein, schwach, hat ums Überleben gekämpft. Sie hat nicht mehr lange – ihre Mutter und ich spüren es beide.«
Ein Ausbruch von Erinnerungen drang aus meinem Unterbewusstsein auf mich ein. Ich erinnerte mich daran, bereits hierüber gesprochen zu haben. Darüber, wie man einen Nephilim umbrachte. Darüber, einen weiblichen Nachkommen zu opfern, der das Alter von sechzehn Jahren erreicht hatte. Ich erinnerte mich an meine eigenen Zweifel, warum mein leiblicher Vater mich hätte aufgeben sollen. Ich erinnerte mich …
In einem Augenblick wurde mir schlagartig alles klar. »Deshalb hast du dir nicht die Mühe gemacht, Marcie vor Rixon zu verstecken. Deshalb hast du mich aufgegeben, aber sie behalten. Du hättest nie gedacht, dass sie lange genug leben würde, um als Opfer zu dienen.«
Ich andererseits hatte das ganze Paket bekommen: Hanks Nephilimzeichen und eine exzellente Überlebenschance. Ich war als Baby versteckt worden, um Rixon davon abzuhalten, mich zu opfern, aber eine eigenartige Wendung des Schicksals hatte Hank dazu bewogen, mich als Anführerin seiner Revolution auszuwählen. Ich schloss die Augen fest, hoffte, die Wahrheit ausblenden zu können.
»Nora«, sagte Hank. »Mach die Augen auf. Sieh mich an.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde den Eid nicht schwören. Nicht jetzt, nicht in zehn Minuten, niemals.« Mir lief die Nase, und ich konnte sie nicht abwischen. Ich wusste nicht, was peinlicher war – das oder das Zittern meiner Lippen.
»Ich bewundere deine Tapferkeit«, sagte er, und seine Stimme war trügerisch sanft. »Aber es gibt verschiedene Arten von Tapferkeit, und diese hier passt nicht zu dir.«
Ich zuckte zusammen, als sein Finger mit einer beinahe väterlichen Geste eine Locke meines Haars hinter mein Ohr zurückstrich. »Schwöre, dass du ein reinrassiger Nephilim werden und meine Armee befehligen wirst, und ich lasse dich und deine Mutter laufen. Ich will dich nicht verletzen, Nora. Du hast die Wahl. Schwöre den Eid, und du kannst diese Nacht hinter dir lassen. Dann ist alles vorbei.« Er knotete meine Handfesseln auf; das Seil glitt zu Boden.
Meine Hände zitterten, als ich sie auf meinem Schoß knetete, aber nicht wegen der fehlenden Durchblutung. Etwas anderes, das er gesagt hatte, erfüllte mich mit heißem Entsetzen. »Meine Mutter?«
»Ja, ganz richtig. Sie ist hier. In einem der Zimmer unten; sie schläft.«
Das grässliche Stechen hinter meinen Augen kehrte zurück. »Hast du ihr was getan?«
Anstatt meine Frage zu beantworten, sagte er: »Ich bin die Schwarze Hand. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, und um ehrlich zu sein, dies ist der letzte Ort, an dem ich heute Nacht sein möchte. Ich will es nicht tun, aber mir sind die Hände gebunden. Die Entscheidung liegt bei dir. Schwöre den Eid, und du und deine Mutter, ihr geht gemeinsam hier raus.«
»Hast du sie jemals geliebt?«
Er blinzelte überrascht. »Deine Mutter? Natürlich habe ich sie geliebt. Es gab eine Zeit, da habe ich sie sehr geliebt. Aber die Welt hat sich verändert. Meine Vision hat sich verändert. Ich musste meine eigene Liebe für die gesamte Rasse opfern.«
»Du wirst sie töten, nicht wahr? Wenn ich den Eid nicht schwöre, dann wirst du das tun.«
»Mein Leben ist von schweren Entscheidungen bestimmt. Ich werde heute Nacht nicht damit aufhören, sie zu treffen.«
»Lass mich sie sehen.«
Hank zeigte auf eine Reihe Fenster auf der anderen Seite des Raums. Ich stand langsam auf, fürchtete mich vor dem Zustand, in dem ich sie vorfinden würde. Als ich durch die Fensterreihe blickte, ging mir auf, dass ich in einer Art Büro war, das auf das Lagerhaus darunter hinausging. Meine Mutter lag zusammengerollt auf einem Feldbett, bewacht von drei bewaffneten Nephilim, während sie schlummerte. Ich fragte mich, ob wie bei mir ihre Wahrnehmung sich in ihren Träumen klärte und sie
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