Rette mich
der Deckenlüftung zu kommen.
»Wer ist da?«, rief ich argwöhnisch nach oben.
Als ich keine Antwort bekam, wusste ich, dass es sich um den Beginn der nächsten Halluzination handeln musste. Dr. Howlett hatte es vorausgesagt. Mir wurde beklommen zumute. Ich musste hier weg. Ich musste meine Gedanken ablenken und den Zauber brechen, bevor er mich in seinen Bann zog.
Ich griff nach dem Türgriff, als plötzlich ein Bild in meinem Bewusstsein aufstieg und mein Sehen verdunkelte. In einer schrecklichen Veränderung der Umgebung konnte ich nicht länger die Toilette sehen, anstelle der Fliesen wurde der Boden unter meinen Füßen zu Zement. Über meinem Kopf zogen sich metallene Dachträger kreuzweise über die Decke wie gigantische Spinnenbeine. Eine Reihe von Lastwagenbeladungstoren zogen sich eine Wand entlang.
Ich hatte mich in ein – Lagerhaus halluziniert.
Er hat mir die Flügel abgesägt. Ich kann nicht nach Hause fliegen, wimmerte die Stimme.
Ich konnte nicht sehen, zu wem die Stimme gehörte. An der Decke hing eine nackte Glühbirne, die ein Förderband erleuchtete. Abgesehen davon war das Gebäude leer.
Ein Dröhnen erfüllte den Raum, als das Förderband sich in Bewegung setzte. Ein schepperndes, mechanisches Geräusch kam aus der Dunkelheit am Ende des Bandes. Es trug etwas zu mir hin.
»Nein«, sagte ich, weil es das Einzige war, was mir einfiel. Ich tastete mit den Händen vor mir herum, versuchte, die Tür der Toilettenkabine zu finden. Das hier war eine Halluzination, meine Mutter hatte mich davor gewarnt. Ich musste darüber hinwegkommen und einen Weg zurück in die Wirklichkeit finden. Und die ganze Zeit wurde das schreckliche, metallene Kratzen lauter.
Ich trat von dem Förderband zurück, bis ich an eine Betonwand gedrückt dastand.
Ich konnte nirgendwohin entkommen und sah, wie ein Metallkäfig aus den Schatten herausrüttelte und schepperte, sich dem Rand des Lichtkegels näherte.
Die Gitterstäbe leuchteten in einem gespenstischen elektrischen Blau, aber das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit erregte. Eine Person war darin zusammengekauert. Ein Mädchen, zusammengekrümmt, um in den engen Käfig zu passen, ihre Hände umklammerten die Gitterstäbe, ihr blauschwarzes Haar hing ihr ins Gesicht. Ihre Augen sahen durch den Haarschleier hindurch, sie waren farblose Kugeln. Ein Seil, das dasselbe unheimliche Licht abgab, war um ihren Hals geschlungen.
Hilf mir, Nora.
Ich wollte wegrennen, zu irgendeinem Ausgang. Ich hatte Angst, es mit den Toren zu versuchen, fürchtete, dass die mich nur tiefer in die Halluzination hineinführen würden. Was ich brauchte, war meine eigene Tür. Eine, gerade jetzt geschaffen, aus der ich durch die Toilette der Schule entkommen konnte.
Gib ihm nicht die Kette! Das Mädchen rüttelte heftig an den Stäben des Käfigs. Er glaubt, du hättest sie. Wenn er die Kette hat, kann ihn nichts mehr aufhalten. Dann habe ich keine Wahl mehr. Dann muss ich ihm alles erzählen.
Die Haut an meinem Steißbein und meinen Unterarmen war feucht. Kette? Was für eine Kette?
Es gibt keine Kette, sagte ich mir. Sowohl das Mädchen als auch die Kette sind wilde Ausgeburten deiner Fantasie. Zwing sie heraus. Zwing. Sie. Heraus!
Es klingelte.
Einfach so wurde ich aus der Halluzination herausgestoßen. Die abgeschlossene Tür der Toilettenkabine war nur Zentimeter von meiner Nase entfernt. MR. SARRAF IST ÄTZEND. B.L. + J.F. = LIEBE. JAZZ BAND ROCKT. Ich streckte eine Hand aus, zog die tiefen Scharten nach und sackte dann vor Erleichterung zusammen.
Stimmen wurden im Waschraum hörbar. Ich zuckte zusammen, aber sie waren normal, fröhlich, geschwätzig. Durch den Türspalt sah ich, wie drei Mädchen sich vor den Spiegeln aufreihten. Sie schüttelten sich die Haare auf und trugen neuen Lipgloss auf.
»Heute Abend sollten wir Pizza bestellen und Filme gucken«, sagte eine von ihnen.
»Kann nicht, Mädchen. Heute Abend gibt es nur mich und Susanna.« Ich erkannte die Stimme von Marcie Millar. Sie stand in der Mitte der Reihe, rückte ihren rotblonden Seitenpony zurecht, befestigte ihn mit einer rosa Plastikblume.
»Du lässt uns wegen deiner Mutter hängen? Hm, autsch ?«
»Hm, ja . Gewöhn dich dran«, sagte Marcie.
Die beiden Mädchen neben Marcie schmollten demonstrativ. Wahrscheinlich handelte es sich um Addyson Hales und Cassie Sweeney. Addyson war Cheerleaderin wie Marcie, aber ich hatte einmal mitangehört, wie Marcie zugegeben hatte, dass sie nur mit Cassie
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