Rette mich
Erniedrigung, während ich mein Leben wieder neu erlernte? Ich konnte mir schon vorstellen, was mich innerhalb der Schulmauern erwartete. Diskret mitleidige Blicke. Peinlich berührtes Wegsehen. Von einem Fuß auf den anderen treten und langes Schweigen. Oder mir einfach ganz und gar aus dem Weg gehen, was die sicherste Variante war.
Ich spürte, wie Empörung in mir aufstieg. Ich wollte kein Schauspiel sein. Ich wollte nicht Gegenstand fantastischer Mutmaßungen sein. Was für beschämende Theorien zu meiner Entführung hatten sich bereits verbreitet? Was dachten die Leute jetzt über mich?
»Wenn du Scott siehst, achte bitte darauf, ihn mir zu zeigen, damit ich ihm für den Wagen danken kann«, sagte ich bitter. »Gleich nachdem ich ihn gefragt habe, warum er ihn mir überhaupt geschenkt hat. Es mag sein, dass ihr, du und Detective Basso, davon überzeugt seid, dass er unschuldig ist, aber es gibt zu viele Dinge in dieser Geschichte, die nicht zusammenpassen.«
»Nora …«
Ich streckte die Hand aus. »Kann ich den Schlüssel haben?«
Nach einem Augenblick der Stille nahm sie einen Schlüssel von ihrem eigenen Schlüsselbund ab und legte ihn in meine Handfläche. »Sei vorsichtig.«
»Oh, mach dir keine Sorgen. Die einzige Gefahr, in der ich mich befinde, ist die, mich zum Idioten zu machen. Gibt es noch andere Leute, die ich heute treffen könnte und die ich nicht wiedererkenne? Glücklicherweise kann ich mich noch an den Schulweg erinnern. Und nun sieh dir das an«, sagte ich, wobei ich die Autotür öffnete und mich hineinfallen ließ. »Der Volkswagen hat fünf Gänge. Gut, dass ich gelernt habe, mit fünf Gängen umzugehen, bevor ich mein Gedächtnis verloren habe.«
»Ich weiß, es ist nicht der beste Augenblick, aber wir sind heute Abend zum Essen eingeladen.«
Ich sah sie kalt an. »Sind wir das?«
»Hank möchte uns gern zu Coppersmith’s einladen. Um deine Rückkehr zu feiern.«
»Wie aufmerksam von ihm«, sagte ich, rammte den Schlüssel ins Zündschloss und brachte den Motor auf Touren. Dem lauten Stottern nach zu urteilen war das Auto seit dem Tag, an dem ich verschwunden war, nicht bewegt worden.
»Er tut sein Bestes«, rief sie über das Heulen des Motors hinweg. »Er gibt sich wirklich alle Mühe, damit es funktioniert.«
Ich hatte eine bissige Bemerkung auf der Zunge, entschied mich aber, auf größere Wirkung zu zielen. Über die Konsequenzen würde ich mir später Sorgen machen. »Was ist mit dir? Gibst du dir auch Mühe, dass es funktioniert? Eins sag ich dir ganz klar. Wenn er bleibt, dann gehe ich. Würdest du mich jetzt entschuldigen? Ich muss herausfinden, wie ich mein Leben wieder zurückbekomme.«
Sechs
A n der Schule fand ich ganz hinten auf dem Schülerparkplatz eine freie Parklücke und lief über die Wiese zu einem Seiteneingang. Dank des Streits mit meiner Mutter war ich spät dran. Nachdem ich mich vom Farmhaus losgerissen hatte, musste ich mich erst einmal eine Viertelstunde lang an den Straßenrand stellen, um mich zu beruhigen. Mit Hank Millar zu gehen. War sie sadistisch veranlagt? Wollte sie mein Leben zerstören? Beides?
Ein Blick auf den von meiner Mutter stibitzten BlackBerry bewies, dass ich fast die ganze erste Stunde verpasst hatte. In zehn Minuten würde es klingeln.
In der Absicht, eine Nachricht zu hinterlassen, rief ich Vee auf ihrem Handy an.
»Hallooo. Bist du das, Engelchen?«, antwortete sie sofort mit ihrer besten Verführerinnenstimme. Sie versuchte, witzig zu sein, aber ich stolperte beinah.
Engelchen.
Schon der Klang des Wortes schickte Hitzewellen über meine Haut. Schon wieder umfloss mich die Farbe Schwarz, wütend wie ein heißes Band, aber dieses Mal war da mehr. Eine körperliche Berührung, so wirklich, dass ich plötzlich stehen blieb. Ich spürte ein verlockendes Streifen an meinem Wangenknochen entlang, so als würde mich eine unsichtbare Hand streicheln, darauf folgte ein weicher, ganz und gar verführerischer Druck auf meinen Lippen …
Du gehörst mir, Engelchen. Und ich dir. Nichts kann daran etwas ändern.
»Das ist verrückt«, sagte ich laut. Die Farbe Schwarz zu sehen, war eines, aber damit herumzuknutschen ging dann doch zu weit. Ich musste aufhören, mich selbst so heimzusuchen. Wenn ich so weitermachte, dann würde ich bald wirklich an meinem gesunden Menschenverstand zweifeln.
»Was war das?«, sagte Vee.
»Ah, Parkplatz. Alle guten Plätze sind besetzt.«
»Rate mal, wer heute in der ersten Stunde Sport hat? Das
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