Rettende Engel (German Edition)
sagen, zögerte, und sagte dann, weil es einfacher und weniger abschreckend klang: „… ein Freund von Kaha. Ich habe zu Hause auch zwei kleine Mädchen.”
Miriam schenkte ihm einen kurzen Blick, doch dann widmete sie sich schnell wieder ihrer Zeichnung. Kaha ging um den Tisch herum auf ihre andere Seite und begann, die bemalten Papierbögen zu studieren, die den Tisch bedeckten. Er musste sich irgendwie beschäftigen, denn es hatte nicht den Anschein, dass Chris schnell Erfolg haben würde.
Der sagte gerade zu Miriam: „Sie heißen Lena und Sophie. Und weißt du, was sie überhaupt nicht mögen?”
Neugierig schaute Miriam ihn an.
„Brokkoli”, verkündete Chris.
Aus Miriams Augen sprach Unverständnis. Sie nahm sich einen neuen Stift und begann, ein Hausdach rot anzumalen.
Mist, dachte Chris. Wie blöd war das denn? Bestimmt hatte die arme Kleine überhaupt keine Ahnung, was Brokkoli war. Kannte wahrscheinlich nur die beiden Ps: Pommes und Pizza.
„Weißt du, was sie gerne tun? Singen.” Irgendwo hatte er gelesen, dass Menschen, die stottern, die Wörter besser über die Lippen kommen, wenn sie singen. Könnte das bei Miriam auch funktionieren? Warum nicht? Aber was für Lieder kannte ein vernachlässigtes Kind wie die Kleine wohl?
„Warte”, sagte Kaha in seine Gedanken hinein. „Hör mal einen Moment auf zu reden und sieh dir das an.” Er schob eine Zeichnung zu Chris hinüber.
Das Bild zeigte einen Baum, zwei kastenförmige Häuser und auf einer Wiese zwei Frauen. Neben-, nein, eher hintereinander. Die eine hielt ihre Arme ausgestreckt, etwa in der Höhe des Halses der anderen! Von der einen Hand hing etwas herab, dicker als ein Strich, mehrere violette Striche nebeneinander. Wie ein Stück Stoff, ein Schal oder Tuch!
Zwei Frauen! Aber wer? Doch die Großmutter, die Nachbarin?
Jetzt setzte sich auch Kaha neben das Mädchen. Ihm wurde flau im Magen. Er zeigte auf die vordere Frau. „Miriam, wer ist das?“
„Mama“, sagte das Mädchen und sah Kaha aus großen braunen Augen an.
Kaha zeigte auf die hintere Frau, die mit dem blonden Pferdeschwanz. Seine Hand zitterte leicht. „Und die andere Frau? Wer ist das?“
Chris hielt den Atem an.
„Sandra.“
Kaha wurde blass.
Chris gab einen undefinierbaren Laut von sich, der seine Überraschung und sein Entsetzen verriet.
Kaha schluckte. Dann fragte er noch einmal: „Nein, Miriam, wer ist diese Frau?“
„Sandra.“
28
Einen Moment saßen Kaha und Chris stumm da, während beiden dieselben Fragen und Gedanken durch den Kopf jagten: Sandra? Die Sozialarbeiterin Sandra Reichert? Konnte das stimmen? Es passte dazu, dass der Zeuge eine Frauenstimme gehört hatte, die um Hilfe rief. Aber wie, warum?
Eines war klar. Sie mussten handeln.
Gleichzeitig sprangen sie auf und sagten wie aus einem Munde: „Wir müssen sofort mit ihr sprechen.”
Während sie zum Auto rannten, suchte Chris eine Nummer im Adressbuch seines Handys. Er wählte, während Kaha fluchend den Wagen startete.
Wenig später sagte er zu Kaha: „Sandra ist immer noch nicht im Jugendamt aufgetaucht.”
„Versuch es weiter”, sagte Kaha. „Bei ihr zu Hause, auf ihrem Handy.”
„Wo fährst du überhaupt hin?”, fragte Chris.
„Weiß ich nicht”, sagte Kaha. Er überlegte kurz. „Erst mal zum Präsidium. Vielleicht können wir ihren Aufenthaltsort über ihr Handy aufspüren.”
In genau diesem Moment schlenderte ein Streifenpolizist gedankenverloren durch die verwaisten Gänge des ersten Stocks des Polizeipräsidiums. Die meisten Kollegen waren im Einsatz. Er öffnete die Tür zum Aufenthaltsraum, schloss sie schwungvoll hinter sich – und zuckte erschrocken zurück. Die Tür zur angrenzenden Kaffeeküche war geschlossen, doch jemand hatte begonnen, auf der anderen Seite mit aller Kraft dagegenzuhämmern.
Eine Männerstimme rief: „Hallo? Ist da jemand? Lasst mich raus!”
„Moment”, sagte der Polizist. Er drehte den Schlüssel, der außen im Schloss der Tür zur Kaffeeküche steckte, und öffnete vorsichtig die Tür.
Heraus schoss mit hochrotem Kopf sein junger Kollege Nico Breme.
Im selben Moment begann ein Handy, das auf dem Tisch lag, zu klingeln, so, wie ein Telefon von früher. Ohne seinen Retter zu beachten, nahm Nico das Handy und meldete sich.
„Endlich”, sagte Chris zu Kaha. „Jemand geht dran.” Dann lauschte er verdutzt.
Kaha sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Doch Chris schüttelte nur den Kopf und hörte
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