Rettungslos
verkraften und brachte deshalb seine Frau und deren Freund und anschlieÃend seine beiden Kinder gewaltsam um.
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Die Stimme des Nachrichtensprechers ist emotionslos, er verliest die Meldung so unbeteiligt, als ginge es um die morgendlichen Staudurchsagen. Lisa wird schwindlig, und sie muss sich rasch an einem Regal abstützen.
GroÃer Gott! Er hat also tatsächlich seine Frau umgebracht. Und nicht nur sie, sondern auch noch die Kinder! Gewaltsam â was muss man sich darunter vorstellen â¦?
Vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie zwei groÃe Hände einem Kind die Kehle zudrücken. Ein eiskalter Schauder überläuft sie.
Unvorstellbar! Was, um Himmels willen, geht in einem Menschen vor, der imstande ist, ein wehrloses Kind zu töten?
Hinter Lisa murmelt Anouk im Schlaf, und sie schlieÃt die Augen, um nicht von einer Welle der Verzweiflung und Hilflosigkeit überrollt zu werden.
16
Erst spät am Morgen wird der Schlüssel im Schloss gedreht, und die Kellertür geht auf. Lisa und Anouk sitzen, an die Wand gelehnt, auf einer der Matratzen und haben die Bettdecken um die Schultern gelegt.
Wie ein mittelalterlicher Fürst blickt Kreuger auf sie herab und macht eine auffordernde Geste in Richtung Treppe.
Mühsam steht Lisa auf und hilft Anouk hoch. Die Kleine ist still und blass, aber immerhin hustet sie nicht mehr so viel. Anscheinend hat die Penicillinkur angeschlagen.
Bestimmt verschwindet Kreuger heute wieder, denkt Lisa, ewig kann er ja nicht bleiben. Sie wäre bereit, ihm Geld und was er sonst noch braucht, zu geben, ihn notfalls sogar mit ihrem Auto über die Grenze zu fahren ⦠was immer er fordert.
Sie schöpft wieder Hoffnung, während sie mit Anouk an der Hand die Stufen hinaufgeht.
Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, aber die Vorhänge
sind noch geschlossen. Die Sonne zeichnet ein Muster auf den dünnen Stoff und macht zugleich die Unordnung sichtbar. Auf dem Sofa, den Sesseln und dem FuÃboden sind Zeitungsseiten verstreut. In der Küche herrscht ein heilloses Durcheinander. Auf der Arbeitsplatte liegen jede Menge Verpackungen, der Boden ist mit Brotkrümeln, Käserinden und zerbrochenen Eierschalen übersät. So ziemlich alles, was im Kühlschrank war, steht neben dem Herd, und es riecht noch nach Rührei und Kaffee. Der Herr fühlt sich offenbar wie zu Hause. Plötzlich ist Lisa nicht mehr davon überzeugt, dass er bald geht, und die Enttäuschung macht sich in Form stechender Kopfschmerzen bemerkbar.
Während Kreuger pfeifend durchs Wohnzimmer geht, kümmert sie sich ums Frühstück für sich und Anouk. Sie brüht Tee auf, gieÃt einen Becher Milch ein, und sie setzen sich beide an den kleinen Klapptisch in der Küche statt an den groÃen im Wohnzimmer.
»Ich hab keinen Hunger«, sagt Anouk leise.
»Ich auch nicht.« Lustlos beiÃt Lisa in ihr Käsebrot. Es kommt ihr zäh wie Leder vor; rasch nimmt sie ein paar Schlucke Tee, um den Bissen hinunterzuspülen. »Es reicht, wenn du eine Kleinigkeit isst. Deine Milch trinkst du aber, einverstanden?«
Anstelle einer Antwort nimmt Anouk das Glas mit beiden Händen, trinkt es leer und wirft ihrer Mutter einen triumphierenden Blick zu. Ein weiÃer Milchbart ziert ihre Oberlippe. Lisa lächelt anerkennend.
Verschwörerisch beugt sich Anouk vor und flüstert: »Sollen wir hier den ganzen Tag sitzen bleiben?«
Nur über meine Leiche!, denkt Lisa. Das ist immer noch mein Haus!
»Nein«, sagt sie. »Ich rede nachher mit dem Mann. Vielleicht können wir ihn irgendwohin fahren.«
»Wohin?«
Ins Gefängnis, denkt Lisa, oder in einen tiefen Abgrund.
Sie zuckt mit den Schultern.
»An einen sicheren Ort.«
»Er versteckt sich bei uns, stimmtâs?«, sagt Anouk. »Vor der Polizei?«
Das kann Lisa nicht leugnen.
»Und die Polizei findet ihn nicht.«
»Richtig, dazu ist sie offenbar nicht in der Lage.«
Anouk blickt durchs Küchenfenster ins Freie, und Lisa mustert sie besorgt. Was ihr wohl durch den Kopf geht? Wie groà ist die Gefahr, dass sie ein Trauma davonträgt? Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, doch wenn sie es schafft, Kreuger heute loszuwerden, hält sich der Schaden hoffentlich noch in Grenzen. Vielleicht wird Anouk hinterher eine Zeit lang Angst vor Fremden haben, bevor sie die Sache allmählich vergisst. Andererseits hat sie miterlebt, wie ihre
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