Rettungslos

den Ohren. »Sie ahnen nicht, wo ich bin, falls du das meinst. Insofern gibt es schon Neuigkeiten, gute sogar.«
    Â»Dir ist sicherlich klar, dass die Polizei im Interesse der Ermittlungen zurückhaltend ist.«
    Ihre Bemerkung scheint ihn wenig zu kümmern. Gemächlich faltet er die Zeitung zusammen und legt sie beiseite. »Wenn sie wüssten, wo ich bin, hätten wir das längst gemerkt.«
    Das lässt sich nicht abstreiten, trotzdem hakt Lisa
nach: »Man kann nie wissen. Vielleicht sind sie näher, als du denkst.«
    Â»Sie waren schon ganz in der Nähe. Gestern Nachmittag sind ein paar Polizeiautos die Deichstraße entlanggefahren.«
    Â»Wirklich?« Lisa sieht ihn mit großen Augen an.
    Â»Du kannst mir ruhig glauben. Aber sie haben keinen blassen Dunst, wo ich bin. Außerdem waren sie nicht wegen mir da.«
    Sekundenlang bleibt es still.
    Â»Weswegen dann?«, fragt Lisa heiser.
    Bereitwillig nimmt er die Zeitung wieder zur Hand und sucht den Lokalteil. »Anscheinend ist gestern Nachmittag jemand in den Kanal gefahren. Gar nicht weit von hier.«
    Er hält Lisa die Seite hin. Mit heftig klopfendem Herzen überfliegt sie den Unfallbericht.
    Am Vortag, so liest sie, fuhr eine dreiundvierzigjährige Frau mit hohem Tempo die Deichstraße in Richtung Appeltern und verlor in einer scharfen Kurve die Kontrolle über ihren Wagen. Sie landete im Wasser, und als ein Zeuge, der seinen Hund ausführte, die Unfallstelle erreichte, war das Auto bereits gesunken. Der Mann sprang ins Wasser, befreite die Frau aus ihrem Wagen und nahm bis zum Eintreffen des Krankenwagens Wiederbelebungsversuche vor. Das bewusstlose Unfallopfer wurde in eine Klinik gebracht und lag bei Redaktionsschluss noch im Koma.

17
    Ein Jingle weckt Senta aus ihrem Dämmerschlaf. Jemand muss ein Radio neben das Bett gestellt haben. Eine Frauenstimme dringt an ihr Ohr, dann die neuesten Hits, immer wieder unterbrochen von Gags und dem schallenden Gelächter der Moderatoren.
    Das schnelle Sprechtempo, der rasche Wechsel … Senta fühlt sich überfordert, Kopfschmerzen machen sich bemerkbar. Kann denn keiner das elende Ding abstellen?
    Plötzlich verstummt das Dauerreden und -lachen, und sie vernimmt eine getragene Melodie, wie ein sanftes Wiegen. Sie kennt das Lied, hat es zu Hause auf CD.
    Say that you stay a little
Don’t say bye bye tonight
Say you’ll be mine
Just a little bit of love
Is worth a moment of your time.

    In ihrer Unterwasserwelt singt sie die Worte leise mit. Ohne zu stocken. Wieder ist dieser Name da. Nicht der des Sängers, sondern des Menschen, mit dem sie dieses Lied in Verbindung bringt. Der verbotene Name, der ihren Pakt mit Gott gefährden könnte.
    Sie muss an etwas anderes denken! Hastig kramt sie Erinnerungen an die Zeit hervor, in der ihre Kinder noch klein waren. Sie denkt an ihre eigene Kindheit zurück, um dann wieder in die Gegenwart zurückzukehren, zum letzten gemeinsamen Familienurlaub in Italien. Ihr Sohn Niels wollte eigentlich nicht mehr mit, aber sie konnte ihn schließlich doch überreden. Drei Wochen lang saß er gelangweilt mit seinem iPod im Liegestuhl, torpedierte sämtliche Ausflugspläne und kam nur in Bewegung, wenn sie das Essen auf den Tisch stellte. Denise wiederum hatten die Ferien gefallen. Dinge, zu denen sie zu Hause nicht zu überreden war, wie etwa Gesellschaftsspiele oder ein Einkaufsbummel mit ihrer Mutter, machten ihr im Urlaub, weit weg von ihrer Clique, Spaß.
    Senta hatte es genossen, ihre Tochter wieder einmal für sich zu haben. Zu Hause führt jeder sein eigenes Leben, in sämtlichen Zimmern steht ein Fernseher, und oft sieht jedes Familienmitglied einen anderen Sender. Seit Jahren ist der Sommerurlaub die einzige Zeit, in der es ein richtiges Familienleben gibt.
    Dass Niels erst nicht mitkommen wollte, hatte Senta schmerzlich bewusst gemacht, dass ihre Kinder allmählich selbstständig werden. Niels ist siebzehn, Denise vierzehn, und Jelmer, ihr Jüngster, kommt demnächst aufs Gymnasium. Ein paar Jahre noch, dann
werden sie und Freek die Ferien allein in Italien verbringen.
    Nach dem Urlaub hatte Senta sich vor den Badezimmerspiegel gestellt und ihr Äußeres kritisch betrachtet. Diesmal ohne vorher die Jalousie herunterzulassen, sodass das grelle Licht nicht gedämpft wurde.
    Kein erfreulicher Anblick … Ihren vierzigsten Geburtstag hatte sie noch groß