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Return Man: Roman (German Edition)

Return Man: Roman (German Edition)

Titel: Return Man: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.M. Zito
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der Seite gesehen glich die Szene beinahe einem Vexierbild. Die Zellenblöcke auf der anderen Seite des Gefängnisgeländes zeichneten sich als schwarze Silhouetten am nächtlichen Himmel ab. Der Himmel war pechschwarz bis auf ein kaum merkliches Glühen irgendwo hinter dem Hauptgebäude. Ein schwaches Leuchten wie ein zweiter Mond, der sich den Blicken entzog– kam die Morgendämmerung denn schon so schnell? Mein Gott, er hatte überhaupt nicht geschlafen.
    Beim Ausatmen stieß er weiße Wölkchen aus, die wie traumartiger Nebel vor seinen Augen waberten und sich dann auflösten. Und wieder von vorne. Er sah die Wölkchen in einem hypnotischen Kreislauf kommen und gehen. Als Kind hatte dieses Phänomen ihn an kalten Tagen in Philly fasziniert– nicht so sehr wegen der winterlichen Ästhetik, sondern wegen der Erkenntnis, dass das die ganze Zeit geschah, ob er es nun sah oder nicht. Luft, die in seinem Körper gewesen war– durch die Lunge geströmt war!–, wurde jedes Mal ausgestoßen, wenn er das Zwerchfell anspannte, und die Kälte war wie eine spezielle Linse, die ihm den Anblick des eigentlich Unsichtbaren ermöglichte. An warmen Sommernachmittagen hatte er den Blick manchmal auf die Nasenspitze gerichtet und sich die wirbelnden Wölkchen dort vorgestellt: sein Atem, der unsichtbar in die Welt geblasen wurde.
    Bevor wir sie in uns aufnehmen, ist Luft nur Luft, hatte Danielle gesagt, als sie ihn an einem Sonntagmorgen in L.A. in Yoga unterwies. Die Matten hatten sie auf dem von der Sonne beschienenen Fußboden ausgerollt. Doch dann verwandeln wir sie in Atem. Atem ist Leben. Der Atem ist du. Atme aus, und das Universum saugt dich ein.
    Ich will aber nicht eingesogen werden, hatte er eingewandt.
    Sie hatte liebevoll gelacht. Zu spät, Henry. Das Universum hat dich schon vereinnahmt.
    Und da war er nun, in dieser gefrorenen, dunklen Ecke des Universums, und verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihr. Er sah zu, wie seine Lunge ihn über das Gefängnisgelände verteilte.
    Atem ist Leben, nicht wahr? Dann bin ich also immer noch am Leben.
    Fürs Erste.
    Ihm fielen die Augen zu. Der Boden unter ihm schien aufzuweichen, als ob das Holz unter seinem Gewicht zerfiel und er seine Konturen in die Bretter drückte.
    Lautlos drang ein unheimliches Bild aus seinem Unterbewusstsein nach oben.
    Das Kind auf dem Autositz. Es schwebte mit aufgerissener Kehle in der schwarzen Leere, und die Luftröhre peitschte wie ein loser Schlauch gegen die blutige Brust. Es streckte die Arme nach ihm aus; wie am Abend, als er auf dem Highway an dem Kind vorbeigefahren war.
    Nur ein kleiner Junge. Ein Kind, das nicht einmal wusste, wie man den Sicherheitsgurt löste, und das schon gar nicht die Tragweite seines Todes zu erfassen vermochte.
    Ich hätte dich zurückgeben sollen, dachte Marco. Es tut mir leid.
    Das Gesicht des Jungen veränderte sich. Durchlief eine Verwandlung. War jetzt ein Mädchen.
    Und Marcos Herz sprühte Funken wie eine durchgebrannte Sicherung, denn irgendwie wusste er, dass dieses Mädchen Hannah war– so hätte Hannah ausgesehen, wenn sie ein paar Jahre älter geworden wäre. Ein schönes kleines Mädchen mit kastanienbraunem Haar und magisch leuchtenden Augen, genauso wie Danielle.
    Bist du das etwa?, fragte er. Du in diesem Auto?
    Hannahs Leiche starrte ihn nur an mit Augen wie geronnene Milch. Er sah, dass sie unter einer Kühldecke lag und an das Blanketrol-System angeschlossen war, das man im Cedars-Sinai verwendet hatte. Ein Intubations-Thermometer ragte aus ihrem Hals, und Infusionsschläuche schlängelten sich über ihre Ärmchen. An ihrem Fußknöchel zeigte ein rotes Blinklicht die Sauerstoffkonzentration in ihrem Blut an.
    Fast hätte er erschrocken geschrien– es erschütterte ihn zutiefst, sie wieder so daliegen zu sehen. Sein kleines Mädchen, das mit Schläuchen, Manschetten und Kabeln gespickt war und um sein Leben kämpfte. Er wollte sie halten, sie trösten und ihr versichern, dass diese elende, furchtbare Scheißwelt doch auch irgendwie ihr Gutes hätte…
    Er blinzelte. Ich bin froh, sagte er. Ich bin froh, dass du heute nicht da bist.
    Er hielt inne, erschrocken über seine eigenen Worte. Dann fuhr er zögernd fort:
    Ich bin froh, dass du verschont wurdest. Denn das … ist schlimmer, als tot zu sein.
    Und dann verlor er doch die Fassung, und er brach in Tränen aus.
    Ich liebe dich …
    Der Autositz schwebte näher heran, Hannah streckte die Hand nach ihm aus, und er nahm sie. Ihre Finger waren

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