Revelations
Wege in die Tiefe gab, blieb nur die gefürchtete Abseiltour übrig. Faith meldete sich freiwillig, um den Rotschopf zu begleiten. Gemeinsam schafften sie es, bis zur Abenddämmerung auf der halben Strecke geeignete Fixpunkte zu finden oder selbst welche zu errichten, mit denen sie am nächsten Tag ihr Team sichern konnten.
***
Schon mit den ersten Sonnenstrahlen des fünften Tages befahl Angel den Aufbruch, da sie die folgende Nacht keinesfalls auf einer rutschigen Felskante verbringen wollte. Faith übernahm die Vorhut und erwartete die anderen auf der nächsten Flachstelle, wo sie das Seil festhielt und den ungeübten Bergsteigern den Weg zu stabilem Halt wies. Kim sicherte die Gruppe von oben und sorgte dafür, dass sich das Seil nicht löste und jeder die richtige Technik anwendete.
Caiden zeigte wie im Kloster großes Selbstvertrauen und nahm damit seiner Schwester viel von ihrer Angst. Cole und Dog stachelten sich gegenseitig an. Sie verglichen den Abstieg mit einer Mutprobe und stritten am Ende gar darum, wer zuerst gehen dürfe. Sharon hatte am Morgen entgegen Kims Rat auf ihr Frühstück verzichtet. Das verhinderte zwar ihr obligatorisches Erbrechen, ließ sie aber bereits auf der zweiten Abseilstelle mit bleichem Gesicht zusammensacken und eine Zwangspause einlegen. Angel ging grundsätzlich als Vorletzte. Erst, nachdem das Seil die schweren Männer und das Gepäck sicher getragen hatte, war sie einigermaßen beruhigt. Trotzdem hielt sie die Augen beim freien Abseilen geschlossen und verließ sich blind auf Kims und Faiths Funkdurchsagen. Es gab keine Worte, die auch nur annähernd beschreiben konnten, wie unangenehm ihr diese eine große Schwäche war.
Trotz der schlechten Vorzeichen erreichten sie den Boden schon am frühen Nachmittag, was dem Team Zeit für eine dringend nötige Pause verschaffte. Kim riet jedem, sich zwei stabile Gehstöcke zu suchen, mit denen sich die lange Wanderung deutlich leichter gestalten sollte. Alle bis auf Cole und Dog folgten ihrem Rat. Die Streithälse wollten einander ihre Überlegenheit demonstrieren, was Kim mit einem hilflosen Schulterzucken akzeptierte. Sie war sich mit Faith einer Meinung, dass die beiden Testosteronpakete schon vor Einbruch der Nacht das Schlusslicht der Gruppe bilden würden.
Butch kochte während der zweistündigen Rast eine große Kanne Hagebuttentee, der immer häufiger als Kaffeeersatz herhalten musste. Nachdem sie den ganzen Tag nicht zur Jagd gekommen waren, blieben lediglich knochenhartes Brot und Trockenpflaumen als Verpflegung übrig. Kim studierte zusammen mit Faith den Reiseführer, der bis zur verfluchten Militärbasis reichte, von der jedoch nur die dazugehörige Siedlung mit einem winzigen Punkt markiert worden war. Nichts deutete auf den Flughafen oder den unterirdischen Forschungskomplex hin. Ernüchtert stellten sie außerdem fest, dass das Gebirge in östlicher Richtung anwuchs und sie daher weitaus länger als Sharons Flüchtlingszug vor drei Jahren brauchen würden. Zum Glück hatten sich die beiden Frauen die meisten der Verkehrszeichen gemerkt und konnten so genau bestimmen, unter welcher Brücke sie gerade ihren Nachmittagstee tranken. Die dreitägige Reise mit den Autos hatte sie sehr schnell vorangebracht, so dass nur noch ein Drittel des Weges und zwei größere Tunnel vor ihnen lagen.
Nachdem die Temperatur auf ein erträgliches Maß gesunken und die Gruppe wieder zu Kräften gekommen war, führte Kim sie in Richtung Westen von der zerstörten Autobahnbrücke weg, bis sie auf einen ehemaligen Wanderweg stießen. Der Bergführer beschrieb die Route als gut befestigt und aufgrund des leichten Höhenanstiegs im Zickzack-Kurs auch für Einsteiger geeignet. Letzteres stimmte, doch die Natur hatte sich den grob asphaltierten Pfad schon vor Jahren zurückerobert. Stolperfallen aus knorrigen Wurzeln, tief herabhängende Äste und Zweige sowie heraussprießendes Gras verlangsamten die Wanderung ungemein.
Sharon ging es mit jedem Kilometer schlechter. Sie fiel immer weiter zurück und musste häufig rasten. Ihre Übelkeit beschränkte sich nicht länger auf die Morgenstunden. Den ganzen Tag über vermochte sie keinen Bissen mehr im Magen zu behalten. Ihr Gesicht war kreidebleich und Angel konnte ihren Puls kaum noch fühlen, was auf einen viel zu niedrigen Blutdruck schließen ließ. Cole opferte ihr fast seine gesamten Wasserrationen und musste sie am Ende des Tages beim Gehen unterstützen. Nun bereute er seine
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