Revierkönige (German Edition)
nämlich plötzlich schmeckte und: warum auch nicht? Nur alleine sein durfte er jetzt nicht. Er wollte Musik hören, es war halb zwölf, eine Scheißzeit, die Wohnung war kalt, dunkel und leer, aber das Bier schmeckte und man hatte einen alten Kumpel getroffen. Spargel kaufte an einer Tankstelle zwei Sixpack Bier, Steve klaute ein Fläschchen Dornkaat. Beim Treppensteigen kam er aus der Puste.
Oben in der Wohnung ließ er sich aufs Sofa fallen. „Boa ej!“ Er schnappte nach Luft. „Wenn ich hier oben wohnen würde, würd ich mir dreimal überlegen, ob ich rausgeh.“
Spargel machte eine Dose fertig, rauchte an und reichte sie an Steve weiter. Der hustete lebensbedrohlich und schob in seinen Backen den Auswurf hin und her. „Gutes Zeug“, meinte er mit kieksender Stimme und trank die erste Dose Bier mit einem Zug leer. Spargel legte ein paar alte Punksachen auf und trank Bier, Steves Kopf wippte monoton auf und ab. Er hatte jetzt einen glasigen Blick und sah einfach nur fertig aus. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Und Spargel hörte Musik und trank und rauchte.
Trank und rauchte und hörte.
Als er überlegte, was er dachte und was er da hörte, war es ein Stück von den Clash und sein Blick fiel auf Steves geschlossene Augen und den dünnlippigen Mund, hinter dem sich ein schwarzes faules Loch auftat, das passte doch alles nicht zusammen, Mann.
In seinem Kopf schmerzte das ständige Aufflackern und Erlöschen von Gedanken, nichts war mehr konkret, nichts mehr greifbar, ein Verlust, und man wusste nicht mal, Verlust von was. Sein Kopf war ein hölzerner Hohlraum, in dem eine Stimme schrie, die einen ganz bestimmten Song von den Kinks hören wollte. Sofort! Spargel setzte sich vor seine Anlage, unter der in einem Regal nun 295 sauber beschriftete, nach Musikrichtung geordnete Kassetten standen. Auf welcher der drei Kinks-Kassetten war der Song? Oder war er auf einer von denen mit gemischten Songs, die er für unterwegs aufgenommen hatte? Wo standen die überhaupt? Vierzehn Minuten brauchte er, bis er ihn gefunden hatte, mühsam seine Ungeduld und aufkeimende Wut bezwingend. Er saß vor der Anlage, nahm hin und wieder einen Schluck Bier und stellte fest, dass sich das Lied gar nicht so anhörte, wie er es im Kopf hatte. Er wollte das nicht hören, es war etwas anderes. Es waren nicht die Kinks, es waren die Byrds!, die er hören wollte. Ja, es musste was von den Byrds sein ...
Nur Musik hören, reinkriechen in die Musik, bloß weg von diesem Hohlraum, Holzraum, wo das Pochen seines Herzens zurückschallte. Er drehte lauter. Aber es wurde nur Lärm daraus, und wenn er leiser drehte, dann reichte es nicht, reichte nicht für seine Gier nach ganz bestimmten Tönen, denn es kamen immer nur andere Töne, nicht falsche, das wäre ja etwas Konkretes gewesen, sondern andere, das war seine Verzweiflung. Er lechzte nach etwas und erreichte es nicht, die Stimme schrie weiter in seinem Kopf, in einer Sprache, die er nicht verstand.
Irgendwann musste er aufstehen, weil seine Beine eingeschlafen waren und kribbelten. Steve lag auf dem Sofa und schnarchte. Bei dem Lärm schnarchte der, aber Spargel war es mittlerweile egal, es war ihm auch egal, dass er seine Schuhe ausgezogen hatte und mit seinen Käsefüßen die Armlehne berührte. Er ließ das zu, das war ihm jetzt alles egal. Also machte er einen weiteren Versuch den richtigen Ton zu finden, indem er ein Stück von Can heraussuchte. Um ihn herum lagen leere und halb volle Bierdosen, Aschehäufchen, Kassetten und ihre Hüllen. Er stand auf, gab dem Ganzen einen Tritt und setzte Teewasser auf.
Keine Musik mehr, kein Geräusch. Ruhe war auch nicht gut, viel zu laut. Also drückte er wieder auf die Play-Taste. Nichts war gut, alles was man tat, nur leere Gesten, es gab nichts, was einen befriedigen konnte. Spargel wurde gerade klar, dass er, noch während er im Begriff war, etwas zu tun, jeden Moment wieder umkehren könnte. Die Suche, diese verdammte Suche, wurde zur Tortur, weil er genau wusste, er würde es auf diese Weise nicht finden – es, was auch immer das war. Das musste festgehalten werden: Wir, die Würmer, würden es nie finden. Aber uns würde man finden, weil wir Würmer sind. Das musste aufgeschrieben werden, und dann andere Musik auflegen. Er ging ins Schlafzimmer, um seine alte Olympia-Schreibmaschine zu holen. Hier war es kühl, der Wecker neben der Matratze zeigte zehn nach drei.
Er stellte die Schreibmaschine auf den Couchtisch, setzte
Weitere Kostenlose Bücher