Revierkönige (German Edition)
anderer Orte, ihre Blicke hingen an dem, was sie woanders gesehen hatten. Das befremdete ihn nicht mehr, denn auch er gehörte jetzt zu denen, die mit dem Zug in eine andere Stadt reisten, gehörte zu denen, die andere Dinge sahen, die im Zug lasen und im Speisewagen eine Tasse Kaffee tranken. In seinem Ohr war Ella Fitzgerald.
Die Anzeige schaltete um: Rheingold, Ankunft 17. 25, zehn Min. später. Mann ej, können die nie pünktlich sein? Scheiß Bundesbahn! Er wollte nicht warten, er hasste Warten auf Bahnhöfen und hasste Warten überhaupt. In seinem dünnen Sakko wurde ihm langsam kalt, aber er musste es ja unbedingt heute anziehen. Am liebsten wäre er schnell nach Hause gegangen und hätte sich ein bisschen Dope reingezogen, denn die Wirkung der Drei-Uhr-Dose war gänzlich verflogen. Er ging hin und her und versuchte, an morgen zu denken. Sie wollten mit dem Freese und seiner Freundin zum Chinesen gehen und dann noch ein bisschen bei ihm feiern. Aber wenn er jetzt an den Freese dachte, hatte er eigentlich gar keinen Bock mehr. Der Freese hatte ihn scheinheilig gefragt, was er Silvester mache und ihm dann vorgeschlagen, gemeinsam Essen zu gehen. Der Spargel hatte sofort dieses Bild vor Augen: zwei Paare, nette Unterhaltung, und er mit Vera, die Frau, mit der er zusammen war. Er formierte jetzt mit Vera ein Paar. Aber ob er morgen noch Bock auf Silvesterfeiern hatte, das musste er erst mal sehen.
„Vorsicht an Gleis 16! Es fährt ein der Zug aus München ...“
Er klammerte sich an die Musik in seinem Walkman, doch die innere Aufruhr zwängte sich disharmonisch dazwischen. Ich hyperventiliere, dachte Spargel, ich werd verrückt. Er klammerte sich an das Wort hyperventilieren, aber Wörter konnten jetzt nichts mehr ausrichten. Er dachte an alberne Dinge, aber das nützte auch nichts. Sein Herz raste und raste, er versuchte, dieses Rasen herunterzuschlucken und durch die Nase zu atmen. Der Zug fuhr ein, ein Schatten legte sich über die Wartenden. Das Bremsgeräusch hatte etwas Endgültiges. Man musste sich dem Schicksal stellen. Wollte er das?
Er entdeckte sie sofort im Gewimmel der aussteigenden und abholenden Menschen. Sie trug ihr Haar offen, der intensive rötliche Schimmer darin war neu. Sie trug auch ein neues, beiges Strickkleid, von dem sie behaupten würde, es schon seit Jahren zu besitzen, und spitze Stiefeletten. Hatte sie Strümpfe oder eine Strumpfhose drunter, fragte er sich. Dann stand sie vor ihm, sie umarmten sich, sie küsste ihn auf den Mund und er erwiderte den Kuss flüchtig, jede ihrer Bewegungen war automatisch, zittrig, eckig. Man tat das, weil man diese Dinge eben tat, aber man konnte sie nicht wirklich fühlen, als befände man sich hinter einer Glaswand, die die Sinne abschnitt. Die Aufregung schob eine Barriere zwischen sie und nie war es so wie man es sich vorher ausgemalt hatte.
„Ich brauch erst mal einen Kaffee“, sagte Vera und sah ihn nicht an. „Ich hab bis zwei Uhr früh Brillen fotografiert, damit ich heute den Film zum Entwickeln bringen konnte. Ich seh aus wie ne Leiche.“
Er nahm ihre Reisetasche über die Schulter. „Überhaupt nicht. Du siehst super aus“, sagte er, weil sie das erwartete, aber auch, weil es stimmte. Er war froh, dass sie nicht gleich zu ihm wollte. Man musste die Zeit arbeiten lassen.
„Wir können ja in das Café Enzo bei dir um die Ecke gehen.“
„Ja klar.“
Als er sich im Taxi neben sie setzte, berührten sich ihre Beine. Ein frisch-herbes Parfüm entströmte ihrer Kleidung und auf einmal war ihre Haut präsent: fest und glatt, warm. Unter dem Strickstoff des Kleides malten sich deutlich ihre Brüste ab. Da war es, Sekunden nur, aber es war da und es würde wiederkommen. Jetzt freute er sich.
„Haste denn die Fotos mitgebracht, die wir gemacht haben?“
Vera sah ihn an und lächelte. Sie klopfte auf ihren braunen Lederbeutel. „Sind ganz gut geworden. Aber die ich von dir im Studio gemacht habe ..., na ja, du wirst ja sehen, echte Überraschung. Sogar der Bruno fand die toll. Der hat schon gefragt, wann du mal wieder kommst.“
Spargel hätte am liebsten gesagt: sofort, wir können uns in den nächsten Zug setzen und nach München fahren. In diese herrliche Stadt, wo ein Fluss durchfließt, wo man durch die Straßen schlendert und dauernd neue Sachen entdeckt. Überall sind Bäume, riesige Kastanien, die Farben sind klar, nicht wie hier: nichtssagend und verwaschen. In München ist der Himmel blau, die Häuser sind hell, dabei
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