Revierkönige (German Edition)
verbringen. Denn es war wieder passiert. Das zweite Mal, und für ein zweites Mal gab es keine Entschuldigung.
Folgendes war passiert: Wenn bei aller Kreativität das ökonomische Denken auf der Strecke blieb, musste man am Wochenende bei Dieckmann am Bahnhof einkaufen und den drei- bis vierfachen Preis für seine Grundnahrungsmittel zahlen – von feinköstlichen Kapricen, wie es Söhne von Gardinengeschäftsbesitzern des öfteren überkommt, gar nicht zu reden. Bei Dieckmann bekam man Haarshampoo und Briefumschläge, Kartoffeln, falschen Lachs, frische Milch, Whisky, kurz: alles. Dirk Freese, seit vier Jahren so etwas wie Silvias Freund, gehörte zu den Dieckmann-Kunden. Am Sonntag vor drei Wochen jedenfalls brachte er die gutherzige Silvie wieder mal dazu, ihm in dem Laden ein paar Sachen zu besorgen (und natürlich das Geld auszulegen), während er sich nach den Abfahrtszeiten der Züge nach Düsseldorf erkundigen wollte. Er hatte am nächsten Tag einen wichtigen Termin und heute einen verspannten Rücken, unter dem er aber netter als sonst zu ihr war, und sie konnte einfach nicht nein sagen. Es war nun mal leider teuer dort, weshalb Silvie, die auch ein Haargel und eine Tüte Haribo für sich gekauft hatte, jetzt genau drei Mark fünfundsiebzig fehlten. Sie drehte sich verzweifelt um und sah plötzlich in zwei kalte graugrüne Augen. Sie kannte diesen Blick. Er kramte in seiner Jeans, warf achtlos ein Fünfmark-Stück auf das Rollband und ging raus.
„Jetzt bitt ich dich einmal, mir ´n paar Sachen zu besorgen, einmal, wo ich gerade so viel um die Ohren habe. Du bist so was von saudumm machmal. Kannst du nicht rechnen?!“
Silvia wurde so blass wie die beiden Plastiktüten, die sie in jeder Hand hielt, und spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Was beim Freese überhaupt kein Mitleid erregte, er setzte noch eins oben drauf: „Meinste, dein geiler Arsch rettet alles?“ Da ließ sie die Tüten fallen, klack-klong, ein Glas ging kaputt, Flüssigkeit breitete sich aus. „Du bist einfach widerlich, Dirk“, sagte sie tränenerstickt. „Ich will dich nicht mehr sehen. Echt, ich will dich nicht mehr sehen.“ Und dann brüllte sie: „Hau doch ab!“
Ein peinliches Schauspiel. Als sie sich gerade von ihm wegdrehte, riss er sie am Ärmel ihrer gesteppten, satinglänzenden Jacke zurück und haute ihr eine runter. Es klatschte laut auf ihr Gesicht und rötete ihre zarte Wange für viele Stunden. Doch innen, in ihrem ehrlichen Herzen, machte es eine traurige Wunde. Zwei Wochen lang bearbeitete er sie. Er hatte sich am Telefon entschuldigt, hatte ihr zwei kitschige Postkarten geschickt, die überhaupt nicht zu ihm passten, aber von denen er annahm, dass sie Silvie gefallen würden, er hatte gebettelt und gefleht und sogar gesagt, dass sie ihm wirklich etwas bedeutete, was er noch nie gesagt hatte. Aber sie hielt durch. Denn Silvie, diese junge Frau, die täglich acht Stunden beim Städtischen Wasseramt in der Buchhaltung arbeitete, die jeden Monat ihren neuen Golf abzahlte, in einer süßen kleinen Wohnung wohnte und jedes Jahr – am liebsten mit Dirk Freese – in den warmen Süden geflogen wäre, die dienstags und freitags um sieben eine Aerobic-Klasse besuchte, die etwas für ihre Altersvorsorge tat, die einfach gerne Liebesromane las, Silvie, das nette Mädchen, die gute Seele, die etwas Besseres verdient hätte als diesen Freese, der sie nur ausnutzte, die aber leider nie andere Männer kennenlernen würde als solche, die sie ausnutzten, ja, sie konnte auch hart bleiben. So ließ sie sich nicht behandeln, was zu viel war, war zu viel.
Am 15. Tag hatte dann Spargel angerufen, um mit ihr zu reden, wobei er ganz auf ihrer Seite stand, die Unarten vom Freese aber fast bis zur Bedeutungslosigkeit abschwächte („Man daaf dem nich so viel Bedeutung beimessen“). Nachdem sozusagen die Verpackung geöffnet war, kam er endlich zum eigentlichen Anliegen: ein Plan für Silvester. Der Spargel besaß das Talent – vor allem wenn er von etwas begeistert war – andere so zu bequatschen bis etwas von seiner Begeisterung übersprang, und wenn auch nicht in vollem Maße, so reichte es doch aus, um etwas in Bewegung zu setzen oder zum Beispiel Silvia zum Schwanken zu bringen. Sie schwankte noch ein paar Tage und dann, na dann kippte sie um und sagte zu.
Diese Nacht in Gesellschaft von Spargel und seiner Freundin zu verbringen, begeisterte sie nicht gerade, zumal sie diese Vera kaum kannte. Aber sie hatte Sehnsucht
Weitere Kostenlose Bücher