Rhanmarú - Das tote Land (German Edition)
entsetzten Schrei. Langsam zog er sein
Bein aus dem Loch. Die Brücke schwankte und neigte sich nach rechts. Er sah den
Abgrund vor sich und einen Moment ergriff ihn die Panik. Er schluckte und verlagerte
vorsichtig sein Gewicht. Die Brücke kam wieder ins Gleichgewicht. Vielfaches
Aufkeuchen erklang hinter ihm. Er schloss kurz die Augen und atmete tief
durch. Seine Beine wogen schwer wie Blei. Noch zirka fünf Meter trennten ihn
vom rettenden Ufer. Am liebsten wäre er gerannt, aber er testete weiter Holz für
Holz. Als sein Fuß festen Boden berührte, atmete er erleichtert auf. Er fand einen
Felsen, um den er das Seil wickelte. Erst, als er es verknoten wollte, bemerke er,
dass seine Hände feucht waren und zitterten. Er zwang sich zur Ruhe und vollendete
seine Arbeit. Dann stand er auf und gab den anderen ein Zeichen, dass es
losgehen konnte.
Lennart hatte derweil die verbliebenen Seile auf jeweils zwei Meter zugeschnitten.
Er knotete eines dieser Stücke um das Sicherungsseil, drehte sich um und
sagte: »Der erste Freiwillige bitte!«
»Ich geh«, erbot sich Anna zur Verwunderung aller. »Wenn ich denn muss,
dann lieber sofort. Der Letzte stürzt immer ab. Ich nehme an, du gehst als letzter.
Du warst ein toller Trainer, und ich hab dich wirklich sehr gern gehabt.« Sie küsste
ihn auf die Wange.
Der grinste sie freundlich an und knüpfte ihr das verknotete Seil um die Taille.
»Wir sehen uns drüben. Du hältst dich am besten direkt am Knoten fest. Dann
kannst du ihn gleich schieben. Keine Angst, das hält bestimmt.«
Sie schluckte schwer und machte sich den Weg.
Aeneas brüllte: »Nicht nach unten sehen, bloß nicht nach unten sehen, nur
geradeaus! Dann kann gar nichts passieren.«
Jubelnd erreichte Anna die andere Seite und warf sich zitternd in seine Arme.
»Es ist wirklich nicht so schlimm«, schrie sie ihren Freunden zu.
Erik ging als Nächster. Er sah stur nach vorn und summte vor sich hin. So überhörte
er fast das Knacken der Brückenbretter und sein Herzklopfen.
Holly atmete tief durch und ging los. »Keine Straße könnte sicherer sein. Es ist
ganz wunderbar, ganz wunderbar. Oh Gott, lass es bald vorbei sein! Es ist ganz
wunderbar«, murmelte sie pausenlos vor sich hin.
Suni war trotz allen Zuredens nicht zu bewegen, die Brücke zu betreten. Sie zitterte
und jammerte und weinte dann. Adrian musste sie schließlich begleiten. Sie
hielt die Augen meist halb geschlossen und er zog sie, Anweisungen gebend, hinter
sich her.
Karem wusste zwar, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, aber er hatte selbst
viel zu viel Angst.
»Es kann nichts passieren«, versuchte Lennart, ihn zu beruhigen. »Du bist doch
am Seil gesichert, sollte die Brücke brechen.«
»Ich kann das nicht«, stöhnte er. »Wirklich nicht! Halte mich ruhig für einen
Angsthasen, aber ich kann nicht darüber gehen.«
»Erma, geh du jetzt«, schlug Lennart vor. »Ich geh als Letzter. Er wandte sich
an Karem: »Willst du tatsächlich allein hierbleiben? Uns beide zusammen hält die
Brücke in keinem Fall aus.«
Gerrit gesellte sich zu ihnen. »Ich geh mit Karem.« Er sah ihn an. »So mutig
wie Suni bist du hoffentlich auch?! Ich hab Höhenangst, sehe deshalb nicht nach
unten. Mach du es genauso!«
Karem musste erst schlucken, dann nickte er. Sie machten es dem Paar zuvor
nach. Gerrit befahl: »Kleiner Schritt, großer Schritt!«
Sein Begleiter folgte den Anweisungen mit geschlossenen Augen. Endlich auf
festem Boden war Karem unendlich beschämt. Ausgerechnet das Küken hatte ihn
gerettet. Gerrit tat so, als wenn nichts gewesen wäre. Er umarmte seinen Ringlord
und erklärte treuherzig, es sei wirklich sein Ernst gewesen, was er gerade gesagt
hätte. Er hätte das nicht nur gesagt, weil er Angst gehabt hätte, Aeneas hätte sterben
können in dem Glauben, ihm sei ein knuspriger Braten lieber. Dann fügte er
mit einem Schlucken an: »Aber stell dir mal vor: knusprige Haut über saftigem,
zartem Fleisch! Ich mag gar nicht daran denken.«
Aeneas verdrehte nur die Augen und wuselte ihm durch das Haar.
Entgegen Annas Prophezeiung kam auch Lennart problemlos über die Brücke.
Sein Herz pochte wie wild, aber da man das nicht sehen konnte, leugnete er forsch,
jemals Angst oder Bedenken gehabt zu haben.
Erma sah sich die wackelige Konstruktion nochmals an. »Ich kann nicht glauben,
dass wir alle gesund hier sind«, murmelte sie und erschauerte.
Ihr Verlobter legte den Arm um sie und sagte leise: »Es
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