Rheines Gold
in die Stadt reiten. Das ist nun wirklich keine Aufgabe für eine Frau.«
Oda legte Rufina die Hand auf den Arm.
»Komm, ich begleite dich zum Bach. So kannst du nicht in die Colonia zurückkehren. Wartet auf uns, Vater.«
Halvor nickte, und die beiden Frauen gingen zu einem kleinen Gehölz. Als Rufina sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie Maurus sich an Silvian wendete. Oda beobachtete es ebenfalls.
»Der Baumeister ist dein Geliebter.«
»Nein.«
»Oh doch.«
»Es ist anders, als du denkst.«
»Du warst bis vor kurzem eine Witwe. Ich verstehe schon. Hier ist es!«
Ein kleines Bächlein plätscherte zwischen blühenden Sträuchern, und Rufina blieb mit einem Ausruf des Erstaunens stehen.
»Es ist so hübsch hier!«
»Ja, es ist schön, und es ist ein Ort, den unsere Götter lieben.«
Sie berührte leicht die weißen, honigduftenden Dolden des Holunders. Der Schlehdorn war bereits verblüht und die Haselkätzchen waren auf den Boden gefallen, aber einige rosa Heckenrosen entfalteten soeben ihre Knospen. Das Ufer des Baches war von moosigen Steinen gesäumt, und das Wasser plätscherte klar und kalt über den Kies.
»Gib mir deine Kleider, ich schüttele den Staub aus.«
»Ja, danke.«
Rufina zog sich ohne Scheu aus, steckte einen Zeh in das Bachbett und schauderte.
»Verwöhntes Luxusweibchen! Ja, ja, die Becken in der Therme haben angenehmere Temperaturen«, spottete Oda.
Rufina nahm ihren Mut zusammen und ging bis in die Mitte des Wasserlaufes. Er reichte ihr bis über die Knie, und mit schnellen Bewegungen rieb sie sich den Schmutz von Armen, Schultern und Hals. Dann ging sie in die Hocke und spülte sich auch noch die Haare aus. Bibbernd stieg sie aus dem Bach und streifte sich mit den Händen die Wassertropfen ab. Mit den Fingern ordnete sie sich die wirren Locken. Zum Glück schien an diesem Tag die Sonne recht häufig durch die Wolken, und es war jetzt, am frühen Nachmittag, angenehm warm geworden. Rufina zog sich die Kleider über die feuchten Glieder und sah dann zu Oda hin, die sinnend über einigen Hölzchen brütete, die sie auf dem Moos ausgebreitet hatte.
»Was ist das?«
»Dieser Platz ist ein heiliger Ort«, murmelte Oda. »Die Büsche selbst haben mir die Runen geworfen.«
Rufina betrachtete die Ästchen, die sie zusammengesammelt hatte, und ein vages Wiedererkennen streifte sie.
»Ja, sie sehen aus wie eure Wahrsagezeichen. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Omen?«
Oda seufzte: »Es ist das, was ich verdiene. Sieh hier - Isa, die Erstarrung, die Verblendung, die Blindheit. Der Holunderbusch sandte mir das Zeichen.«
Es war ein einfaches, ganz gerades Stückchen Holz, wie ein I des Alphabetes, das Rufina kannte.
»Diese ist Thurisaz, der Dorn. Vom Schwarzdorn gesandt. Der Verlust, der Schaden, die Grausamkeit. Das Unglück, das ich verursacht habe.«
Es war ein ebenfalls gerades Hölzchen, in dessen Mitte ein Dorn hervorragte.
»Und für die Zukunft weist mir Naudhiz den Weg, vom Haselbusch geworfen. Not und Elend werden mein Schicksal sein.«
Ein gerades Stöckchen hatte Verästelungen nach rechts unten und links oben.
Rufina starrte genauso betroffen auf die drei Hölzchen wie die junge Germanin. Dann aber fiel ihr ein, was ihr die Runenwerferin damals erklärt hatte.
»Wolfrune hat mir gesagt, die Zeichen seien selten klar. Sie zeigen die Richtung, die das Schicksal nimmt. Wer klug ist und die Muster erkennt, kann es wenden.«
»Ja, manche können es. Du hast es getan. Du bist eine starke Frau, Rufina. Ich bin es nicht.«
»Im Augenblick nicht, Oda. Vielleicht hat dich etwas in der Vergangenheit erstarren lassen. Dein selbstsüchtiger Wunsch nach Anerkennung und Gold. Aber den Schaden, den du angerichtet hast, versuchst du doch jetzt wieder zu heilen. Könnte dadurch nicht die Erstarrung deines Herzens gelöst werden?«
Oda drehte die Rune Naudhiz zwischen den Fingern.
»Ich kann mich nicht mehr genau an die Runenverse erinnern. Ich habe nie besonders gut zugehört, wenn Mutter sie mir erklärt hat. Aber du hast etwas angerührt, Rufina.« Sie legte das Ästchen vor sich und schloss die Augen. Dann flüsterte sie plötzlich:
»›Not beklemmt die Brust,
wenngleich sie den Menschenkindern dennoch oft
Hilfe und Erlösung wird,
wenn sie sie beizeiten beachten.‹«
Die wundersame Kraft, die in Rufina erblüht war, entfaltete sich zu ihrer vollen Größe. Der süße Duft des Holunders dehnte sich in ihrem Geist aus, das Tschilpen der Vögel und das Raunen
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