Rheingau-Roulette
hatte. Über dem Ort schwebte eine Art heiterer Gelassenheit, so als ob man sich nach langer Anlaufzeit endlich der heißen Witterung ergeben hätte und sich nicht nur einrichtet, sondern auch darauf verlässt. Die Alten machten mittags ohnehin Siesta, aber nun begannen auch die Jungen, ihre Tage mit einer Mittagsruhe zu planen. Frank hatte in seiner Firma nur noch eine Rumpfbesetzung, die den ganzen Tag da war, alle anderen ließ er mittags nach Hause gehen und im Home Office weiterarbeiten. In den Ämtern der Gemeinde saß man im Halbdunkeln, alle Fenster waren mit Rollos oder Gardinen verhängt, um die Raumtemperatur einigermaßen konstant zu halten. Die Ventilatoren brummten in allen Räumen und die verschnupften Opfer der Klimaanlagen schimpften über zu kalte Luft innen oder zu heiße Luft draußen. Die Kindergärten machten mittags die Türen und Fenster zu, um die Hitze auszusperren und die Schulen mussten seit Ferienende einen Erlass des Ministeriums hinnehmen, der die zulässige Temperatur in den Räumlichkeiten von fünfundzwanzig auf siebenundzwanzig Grad erhöhte, bevor es Hitzefrei geben konnte.
Alexandra war glücklich. Es gab keine toten Ratten vor ihrer Haustür, schon seitdem sie bei Hannes wohnte nicht mehr, und der Praxisbetrieb bekam langsam, aber steten Zulauf. Mehrere Mütter hatten ihre Kinder als Patienten angemeldet und die ersten Hausbesuche standen an. Die Bedenken, die sie gehabt hatte, wichen der Zuversicht. Die ersten Tage war sie immer noch mit der ängstlichen Erwartung an der Praxis angekommen, dort tote Ratten und Ähnliches vorzufinden, aber bisher waren keine unangenehmen Begleiterscheinungen aufgetreten.
Die Staatsanwaltschaft hatte ihr geschrieben, dass der Auslöser des Brandes vermutlich ein elektrischer Defekt des Boilers war und hatte sie vom Vorwurf der vorsätzlichen Brandstiftung entlastet. Wolfgang war persönlich gekommen, um ihr das Schreiben zu überbringen. Er hatte sogar Kuchen dabei. Alexandra war vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen, die Wolfgang mit netten Worten trocknete und sie bei der Gelegenheit gleich zum nächsten Grillfest einlud. Alexandra entspannte sich zusehends. Sie traf sich mit Stella, um über Gartenanlagen zu plaudern. Die Versicherung hüllte sich weiter vornehm in Schweigen und Alexandra mochte sich nicht festlegen, was ihre zukünftige Wohnsituation betraf. Zunächst wollte sie sich eine neue Wohnung suchen, auch wenn sie die Lebenssituation auf Hannes Hof zusehends genoss.
Und sie lief regelmäßig mit Gina. Dreimal in der Woche trafen sie sich und trainierten nach dem Laufplan, den Gina zusammengestellt hatte, für den Halbmarathon. Alexandra hatte Gina schon mehrfach auf den Hof und in die Praxis eingeladen, aber sie hatte es bisher noch nicht geschafft, der Einladung zu folgen.
„Tut mir leid, Alex. Meine Kunden sind momentan wie verrückt nach mir. Ich bin froh, wenn ich mir die Zeit zum Laufen aus den Rippen schneiden kann. Und bei dir? Wie läuft die Praxis?“
„Ganz gut. Ich habe in dieser Woche schon zwanzig Therapien, das ist für die dritte laufende Woche ein ganz guter Schnitt.“
„Glückwunsch. Und sonst? Was gibt es sonst Neues bei dir?“
„Nichts Besonderes. Nur, das ich mit Hannes eine Motorradtour mache.“
„Ehrlich?“ Gina machte ein erstauntes Gesicht.
„Du hast gar nicht erzählt, dass du ein Motorrad hast.“
„Habe ich auch nicht.“ Alexandra schnaufte leicht, da Gina das Tempo sacht erhöht hatte und der Weg über eine kleine Anhöhe durch das lichte Wäldchen führte. „Ich fahre bei Hannes hinten drauf mit. Als seine ängstliche Beifahrerin.“
Ginas Gesicht verzog sich. „Als Beifahrerin? Das wäre nichts für mich. Da würde ich mich total ausgeliefert fühlen.“ Sie bog auf einen Weg ab, der aus dem Wäldchen führte und entlang der Hauptstraße verlief. Dabei verschärfte sie das Tempo so, dass Alexandra Mühe hatte, ihr zu folgen.
„Mensch, gibst du heute Gas.“ Sie keuchte.
„Sorry, musste gerade mal sein.“ Gina fiel wieder in ihr ursprüngliches Lauftempo zurück. „Hast du keine Angst, mit ihm mitzufahren? Hast du nicht erzählt, dass du ihn noch nicht so lange kennst?“ Gina musste ihre Stimme erheben, weil auf der Landstraße neben ihnen reger Verkehr herrschte.
„Klar habe ich Angst. Ich darf gar nicht drüber nachdenken, wieviel Angst ich habe. Aber er hat mich überredet und er hat mir versprochen, vorsichtig zu fahren.“
„Aha. Und wann wollt ihr
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