Rheingold
wollte nun Siggeir den Göttern zum Geschenk machen. Er war so sehr in Gedanken versunken, daß er nicht bemerkte, was auf dem Weg geschah, bis ein kleiner goldener Ring über die Büsche flog und fast vor seine Füßen fiel. Dann hörte er eine Kinderstimme: »O weh, nun hast du ihn verloren! Er ist dorthin geflogen...« Dann sah er die zwei Kinder. Die Zeit war ihnen lang geworden, während sich alle auf der Lichtung versammelten und ihr Vater die Götter und Göttinnen anrief. Deshalb hatten sie sich unbemerkt davongeschlichen und näherten sich jetzt den Büschen, hinter denen Sigmund und Sinfjotli warteten. Das Licht des vollen runden Mondes fiel weiß auf ihre Gesichter. Als eines der Kinder den Mund öffnete, um zu schreien, hatte Sinfjotli bereits das Schwert gezogen, und schwarzes Blut schoß aus dem blassen Hals. Aber das andere Kind stieß einen durchdringenden Schrei aus, ehe es unter dem tödlichen Hieb zu Boden sank. Als seine Kinder starben, verstummte Siggeirs Stimme so plötzlich, als habe Sinfjotlis Schwert auch ihn getroffen. Im nächsten Augenblick stürmten die Krieger über die Lichtung und durchkämmten den Hügel.
Auch die Frauen griffen nach ihren Dolchen und feuerten ihre Männer an.
»Nehmt sie gefangen!« brüllte Siggeir über den
Lärm hinweg und rannte mit gezogener Waffe über die Lichtung. Das Schwert wirbelte in seiner Hand mit einer atemberaubenden Schnelligkeit, die Sigmund vergessen hatte. Die wölfische Wut übermannte Sigmund. Er bahnte sich durch die Angreifer einen Weg zu Siggeir. Aber es waren zu viele. Zwar konnten ihre Waffen ihm nichts anhaben, aber die Wucht ihrer Hiebe und Stöße bremste seinen Lauf. Er glitt auf dem Schlamm aus und heulte wie ein Wolf in ohnmächtigem Zorn den Mann an, der sein Schwert hatte. Die Männer rückten mit ihren Schilden gegen ihn vor, bis er auf der Erde lag. Er warf sie immer wieder zurück, aber am Ende waren es zu viele, und ihr Gewicht war zu groß.
Undeutlich hörte er Siggeirs Befehl: »Legt die beiden in Ketten. Bringt sie in die Halle und wartet bis morgen. Ich werde über ihr Schicksal nachdenken. Sie haben den heiligen Hain durch Blut geschändet, und es wird notwendig sein, Freyjar zu versöhnen.« Im ohrenbetäubenden Geschrei gingen Siggeirs Worte unter, aber plötzlich herrschte auf der Lichtung Totenstille. Kurz darauf hörte Sigmund den Schreckensruf des Drichten : »Meine Söhne!« Dann klang Siggeirs Stimme so kalt und ruhig, als sei er kein lebender Mensch mehr. »Günther und Roarar, bringt Siglind in eine Hütte. Laßt sie nicht aus den Augen, aber vergeßt nicht, sie ist meine Frau. Behandelt sie mit der ihr zustehenden Ehre. Ich möchte nur, daß sie so lange bewacht wird, bis beide Bestien tot sind.«
*
Als Sigmund wieder zu sich kam, stellte er fest, daß er und Sinfjotli an Fußknöcheln und Armgelenken an schwere Eisen angekettet waren. Sie lagen mit dem Gesicht nach unten im Schlamm, und eiskalter Regen prasselte auf sie nieder. Ganz in ihrer Nähe errichteten Siggeirs Leute eine Mauer um eine etwa mannshohe, aufgerichtete Steinplatte. Vor ihnen stand der Drichten mit wehendem schwarzen Umhang und offenen grauen Haaren. Er starrte finster auf seine Feinde und hatte die Hand um den Griff von Sigmunds Schwert gelegt. Sigmunds Füße und Hände waren gefühllos, seine Ohren schmerzten vor Kälte. Er sah, wie Sinfjotli neben ihm zitterte. Der junge Wälsung drehte den Kopf und sah ihn an. Sein Kinn war mit vereistem Schlamm verklebt. Es erfüllte Sigmund mit Stolz, daß er nichts sagte, was Siggeir als ein Zeichen von Schmerzen oder Angst deuten konnte. Als das Schicksal, dessen Faden Urd gesponnen hatte, den goldenen Ring in die Büsche fallen ließ, war das, was geschehen war, nicht mehr zu verhindern. Für ihn und Sinfjotli bestand kaum noch Hoffnung, aber das machte ihn nicht niedergeschlagen. Wenn er aus dem Grab, das Siggeir für sie bauen ließ, nicht lebend herauskam, würde er seine letzte Kraft dazu nutzen, seine Seele an den toten Körper zu binden. Dann mochte sein Geist vollbringen, wozu er als Mensch nicht imstande gewesen war. Er würde sein Schwert zurückgewinnen, und auch wenn es nur im Grab neben ihm liegen würde, wäre er schon zufrieden. Wer konnte wissen, ob das Schicksal die Worte des Eruliers nicht doch noch Wirklichkeit werden ließ. Der Erulier hatte gesagt, die Mutter seines Sohnes Sigfrid sei noch nicht geboren. Wer wußte schon, was das Gesetz der Wiedergeburt nach seinem Tod
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