Rheingold
unter seinem freundlichen Lächeln rot bis unter die Haarwurzeln. Alprecht schlug ihm noch einmal auf die Schulter und sagte: »Du kannst jetzt gehen, denn du hast sicher viel zu tun.«
»Danke«, sagte Sigfrid etwas verspätet und lief aus der Halle. Die kalte Morgenluft kühlte sein glühendes Gesicht. Eigentlich wollte er sofort zu den Pferden laufen, aber statt dessen nahm er gedankenverloren den schmalen Pfad zur Quelle im Wald. Ein rauhes Husten schreckte ihn auf. Vor ihm stand ein Fremder in einem dunkelblauen Umhang. Der breitkrempige Hut bedeckte eine Gesichtshälfte. Die derben Schuhe des Mannes waren abgetragen und mit Schlamm bedeckt. Lange graue Haare und ein ebenso grauer Bart umrahmten das düstere Gesicht. Der Mann war groß, größer als Sigfrid und stützte sich auf seinen Speer.
»Wohin willst du?« fragte er mit so tiefer Stimme, daß Sigfrid ein Schauer über den Rücken lief. Sigfrid richtete sich auf und nahm seine Kraft zusammen, um sich dem bohrenden Blick des einen Auges, das unter dem Hut funkelte, zu stellen.
»Ich möchte mir ein Pferd aussuchen«, erwiderte Sigfrid, »kannst du mir einen Rat geben?«
»Komm mit.«
Sigfrid folgte dem Wanderer den Bachlauf entlang zu den Koppeln, auf denen tagsüber noch immer die Pferde weideten. Aber der Mann ging nicht zu den Zweijährigen, die eingeritten und abgerichtet wurden, sondern blieb bei den Jährlingen stehen. Er öffnete das Gatter und trieb die Pferde hinaus. Sigfrid half ihm dabei. Die jungen Tiere galoppierten ausgelassen den Weg zum Rhein hinunter, und die beiden Männer folgten ihnen. Am Flußufer angelangt, keuchte Sigfrid atemlos und drückte eine Hand auf die stechende Seite, aber der alte Mann schien nicht im geringsten erschöpft zu sein. Er wartete nur einen Augenblick, bis Sigfrids Atem wieder ruhiger ging, ehe er den Mantel hob und den Pferden mit der flachen Hand gegen die Flanken schlug. Sigfrid trieb die Herde mit lautem Rufen und heftigen Armbewegungen ins Wasser; schließlich standen sie alle bis zum Bauch in den klatschenden Wellen. Der Fremde ging zum Ufer zurück, und Sigfrid folgte ihm.
»Und nun?« fragte Sigfrid und schüttelte das Wasser aus den Hosenbeinen. »Paß auf!«
Die Pferde begannen bereits, zum Ufer zurückzukehren, und stemmten sich gegen die Strömung. Nur ein Fohlen schwamm zur Flußmitte hinaus. Es war der sturmgraue Hengst von Harifax. Er schüttelte schnaubend die lange Mähne, während das braune Flußwasser um ihn herum gurgelte und klatschte. Abgerisse Äste trieben auf ihn zu,
verfingen sich in seinen Beinen und zogen ihn unter Wasser. Sigfrid stockte der Atem, er ballte erregt die Fäuste und lief hinunter zum Ufer. Aber der Hengst befreite sich mit kräftigen Tritten aus dem Hindernis und schwamm weiter.
»Nimm den Sturm grauen und sorge gut für ihn«, sagte der alte Mann, und sein leuchtendes Auge richtete sich auf Sigfrid wie ein blitzender Speer. »Sein Vater ist Sleipnir, und es wird kein besseres Pferd als ihn geben.« Der Fremde stieß einen so durchdringenden Pfiff aus, daß Sigfrid zusammenzuckte und erschrocken die Hände auf die Ohren preßte. Als er wieder aufblickte, war der alte Mann verschwunden, aber der junge Hengst schwamm auf ihn zu. Sigfrid wartete, bis das Pferd das Ufer erreicht hatte und aus dem Wasser sprang. Mit nasser Mähne und nassem Fell lief es geradewegs auf Sigfrid zu und drückte ihm die Nüstern so stürmisch an die Brust, daß Sigfrid fast umgefallen wäre. Er ließ sich die Zuneigung des Pferdes gefallen und streichelte es zum ersten Mal. Er spürte die Wärme unter dem nassen Fell und legte dem Sturmgrauen die Arme um den Hals, denn er erkannte plötzlich, was er sich beinahe ein Jahr lang nicht hatte eingestehen wollen.
»Du gehörst mir«, flüsterte er heftig und lehnte sich an den jungen Hengst. Das Pferd senkte den Kopf und knabberte vorsichtig an Sigfrids Haaren. »Grani«, sagte Sigfrid, »ich nenne dich Grani.«
Grani wieherte leise, als sei er mit dem Namen einverstanden. »He!« hörte er hinter sich Rodger ärgerlich rufen, »wer hat die Jährlinge herausgelassen?«
Die Pferde liefen immer weiter am Fluß entlang. Sigfrid hatte die Herde völlig vergessen. Rodger humpelte zu ihm hinunter ans Ufer und fragte wutschnaubend: »Sigfrid! Hast du vergessen, das Gatter zu schließen?«
»Ja«, erwiderte Sigfrid. Er ließ Grani zögernd los, aber er fuhr ihm noch einmal sanft über die weichen Nüstern.
»Du wirst bis zum Julfest die Ställe
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