Rheingold
die ständig in dem Zelt brannten, denn die Schlangen brauchten die Wärme. Der Schamane hatte Wingi erklärt, daß die Geister der Ahnen manchmal in die Schlangen fahren würden, um mit ihm zu sprechen. Wingi konnte ihre Worte nicht verstehen, aber sein Meister hatte versprochen, daß er eines Tages auch dazu in der Lage sein werde. »Attila hat eine Aufgabe für dich«, sagte der Schamane in dem hohen Singsang der Hunnen. Wingis Vater war Gote, aber Wingi konnte die Sprache seiner Mutter besser sprechen. Für Wingi war es die Sprache der Weisheit, die Stammessprache, die wie die Sitten und Gebräuche von den anderen unwissenden Völkern nicht verstanden wurden. Dazu zählte er auch die Goten und Römer.
»Was für eine Aufgabe hat er für mich, ehrwürdiger Urgroßvater?« fragte Wingi und gab mit der Anrede seiner Achtung gegenüber dem Schamanen zum Ausdruck, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Der Schamane hatte keinen lebenden Verwandten, dem er sein Wissen und seine Kunst hätte vererben können. Der Schamane beugte sich über die Grube und lauschte stumm dem Zischen. Als er sich aufrichtete, flüsterte er: »Du mußt Gudruns Brüdern eine Botschaft überbringen. Du wirst nach Worms reiten. Hüte deine Zunge! Auf dieser Reise droht dir große Gefahr. Du mußt sehr vorsichtig sein, sonst verlierst du dein Leben.«
»Die Burgunder vergessen die alten Lebensweisen«, erwiderte Wingi verächtlich. »Sie wissen nichts mehr von der Weisheit, die sie einmal ebenso wie wir besaßen. Ihr Sinwist hatte das ganze Erbe aus der Steppe seinem Stamm bewahrt, als sie vor uns fliehen mußten. Aber jetzt ist er schon lange tot. Welche Gefahr kann mir von ihnen drohen?« »Hagen ist klüger, als du denkst. Er wäre ein großer Sinwist für sein Volk geworden, wenn Krimhild ihn nicht mit ihren Schlingen an sich gefesselt hätte. Hüte dich vor ihm und bedenke jedes deiner Worte.« Der Schamane deutete zur Zeltklappe. »Geh jetzt und höre dir an, was Attila und dieser Römer miteinander sprechen.« Wingi verneigte sich tief, drückte die Stirn auf den Boden und murmelte: »Hab Dank, mein ehrwürdiger Urgroßvater.«
*
Das Tor der Halle war verriegelt, aber der Schamane hatte Wingi schon vor langer Zeit gezeigt, wie man es öffnet - mit einer kurzen Beschwörung und einem starren Draht. Fast ebenso lautlos wie sein Meister schlich Wingi hinter Attila, der mit dem Rücken zum Eingang vor dem Feuer saß. Der Römer stand neben ihm auf seinen Stab gestützt, als fürchte er, seine Uniform auf Attilas Bänken zu beflecken.
»Es ist nicht mein Wunsch, den Zorn der Götter und Geister meines Volks zu beschwören«, erklärte Attila, »Rom ist weit weg, und sie sind nah. Ich habe noch nicht erlebt, daß die Macht eures Christus bis zu mir reicht, um mich vor ihnen zu schützen.«
»Wir suchen Verbündete unter den christlichen Völkern, die unseren Glauben und unsere Lebensweise teilen. Wenn unsere Priester und Bischöfe zu euch kommen, wenn Kirchen gebaut werden und mit lateinischer Schrift und römischen Zahlen Land, Gold und Menschen registriert werden, dann wirst du unsere Macht erst richtig verstehen und erleben, wie ein Reich im Dienst der Kirche und der Krone regiert werden kann. Viele Herrscher wissen inzwischen, daß ein ehrfürchtiger Christ ein guter Untertan ist, denn er lernt, daß der allmächtige Gott den König zum Herrscher bestimmt hat. Verstehst du, Kirche und König haben ein gemeinsames Ziel.«
»Ein bestechender Gedanke.« Attila lachte. »Aber ich habe bisher nicht erlebt, daß das Christentum den Goten geholfen hätte. Dietrich ist noch immer im Exil. Seine Krieger folgen ihm, weil er ein Amelunge ist und nicht, weil ein Priester es ihnen befiehlt.«
»Vergiß nicht, Dietrich ist Arier«, wandte der Bote wegwerfend ein.
»Das Konzil hat die Lehre des Arius verdammt. Wen wundert es, daß die Ostgoten, die sich zu dem ketzerischen Glauben bekennen, von unserem Gott bestraft werden. Aber laß uns über etwas reden, was vielleicht noch wichtiger für dich ist. Gunter, der Herrscher der Burgunder, ist Heide, und sein Reich ist sehr groß.«
»Das stimmt. Er hat wenig Nachteile davon, kein Christ zu sein.«
»Valentinian sieht das anders. Ihn verbindet nichts mit Gunter, weder der Glaube noch verwandtschaftliche Beziehungen. Die Familie seiner Frau Gladis ist bei dem Imperator in Ungnade gefallen. Für Valentinian ist Gunter deshalb eine Gefahr, eine Bedrohung der Menschen und ihrer Seelen,
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