Rheingold
der jungen Frau hob und sie mit dieser Geste zwang, ihr in die Augen zu sehen.
Siglind wurde plötzlich schwindlig, aber sie richtete sich auf und nahm ihre ganze Kraft zusammen, um Karas Blick zu erwidern, ohne dem gefährlichen Sog zu verfallen. »Ich liebe Siggeir und mein Kind«, erklärte sie energisch, »aber ich werde nie vergessen, was meine Brüder und mein Vater für mich bedeuten.«
Kara entblößte ihre spitzen, weißen Wolfszähne. »Du bist eine treue Frau, Siglind«, krächzte sie, »du wirst deine Pflichten meinem Sohn gegenüber nie vergessen, nicht wahr?«
»Das werde ich nicht«, sagte Siglind.
Kara nickte, obwohl sich mißmutige Falten wie kleine Schlangen auf ihrer breiten Stirn zeigten, denn sie hatte Siglind nicht bezwingen können. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber das Geräusch nackter Füße, die schnell auf dem Feldweg zwischen dem Kornfeld näherkamen, und die keuchende Stimme eines Jungen durchbrachen die entstandene Spannung.
»Ein Schiff! Ein Schiff!« rief der Junge. »Unten an der Landzunge! Sieht aus wie ein Schiff der Sachsen!«
Alle Würde war vergessen! Siglind raffte die Röcke und lief los. Ihre Holzsandalen wirbelten eine kleine Staubwolke auf, und der lange Zopf flatterte im Wind, als sie voll Aufregung und Angst quer über das Feld hinunter und wieder hinauf zum Aussichtspunkt rannte. In ihrem Kopf tönte immer noch das leise Quietschen von Siggeirs Wetzstein, der am Abend zuvor die Klinge seines Schwertes geschärft hatte. In den letzten beiden Wochen hatte sie gesehen, wie seine Männer ihre Äxte ölten, als wollten sie alle Rinder zum Fest schlachten.
Von der hohen Klippe sah Siglind das einlaufende Schiff neben Siggeirs Flotte anlegen. Es trug zwar Wals' Banner mit dem Apfel, aber für ein Flaggschiff war es zu klein. Siglind ging langsamer weiter. Sie keuchte und rang nach Luft, und es klang wie Schluchzen. Sie sind in Sicherheit, dachte Siglind erleichtert, sie kommen nun doch nicht. Dann wurde ihr flau im Magen bei dem Gedanken, daß nur ein Bote anstelle von Wals erschien, und sie begann wieder zu laufen. Wals' Gefolgsmann Osfrid trug eine rostbraune Tunika und einen hellgelben Umhang mit einer großen Silberbrosche. Es beruhigte Siglind etwas, daß sie kein Zeichen der Trauer an ihm entdeckte. Er hob den Umhang, um an Land zu waten. Seine Stiefel klatschten laut durch das klare ruhige Wasser des baltischen Meeres. Höflich wartete er am Strand, bis Siglind den felsigen Weg zu ihm hinuntergekommen war, während die anderen Männer vom Schiff die Seile an den Pfosten zwischen zwei von Siggeirs Schiffen vertäuten. »Sei gegrüßt, Frowe Siglind«, sagte Osfrid; sein Tenor drang mühelos durch die Luft und übertönte den Lärm seiner Mannschaft. »Ich hoffe, es geht dir gut.«
»Oh...«, begann Siglind, wurde aber plötzlich verlegen. Schnell schob sie ein paar Strähnen aus der schweißbedeckten Stirn, räusperte sich und sagte: »Sei gegrüßt, Osfrid. Welche Botschaft bringst du aus der Halle des Drichten Wals?«
Osfrid lächelte sie an. Aus seinen offenen braunen Augen sprach echte Zuneigung. Nur ein paar Zahnlücken beeinträchtigten das gute Aussehen des Boten, der in allen weniger wichtigen Angelegenheiten für Wals sprach, wenn der Drichten nicht selbst in Erscheinung treten wollte oder konnte. »Keine schwere Krankheit, sondern Kämpfe werden den Besuch von Wals noch einige Zeit hinauszögern. Aber bestimmt wird die großzügige Frowe Siglind diese armen Seefahrer auffordern, in die Halle ihres Mannes zu kommen, um dort alle Neuigkeiten von zu Hause zu hören.«
»Oh!« rief Siglind erschrocken, denn sie erinnerte sich plötzlich wieder an ihre Pflichten als Siggeirs Frowe. »Tut mir leid. Offenbar hat mich die Begierde, etwas von meiner Familie zu erfahren, alles andere vergessen lassen. Guter Osfrid, würdet ihr, du und deine Männer, in die Halle des Drichten Siggeir kommen, damit ihr euch nach der langen Fahrt erfrischen und ausruhen könnt?«
»Es ist uns eine Ehre, liebste Frowe«, erwiderte Osfrid. Einen Augenblick lang gelang es ihm noch, ernst und feierlich zu bleiben, bis ein Lächeln um die Augen ihn verriet. Dann verzichtete er auf alle Förmlichkeiten und lachte. »Keine Sorge, Siglind, du wirst dich schon noch daran gewöhnen, die Frowe der Halle zu sein.« Siglind ging mit Osfrid und seinen acht Männern zu Siggeirs Halle hinauf. Sie durchquerten den kleineren Vorraum, wo die Bierfässer standen. Siglind bemerkte, wie die
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