Rheingold
Männer neugierig auf die durch Gatter abgetrennten Ställe blickten, die sich auf ganzer Länge der Halle rechts und links an den Wänden entlangzogen. Knechte und Mägde hatten zwar tagelang die Halle geschrubbt und gefegt, nachdem die Kühe, Pferde, Schafe und Ziegen am Ende des Winters auf die Weiden getrieben worden waren. Aber der Geruch der Tiere, die in der kalten Zeit wie die Menschen in der Halle Schutz und Wärme fanden, hing unauslöschlich in den Holzwänden Es brannte auch kein großes Feuer in der Mitte, wie in den meisten Hallen weiter südlich, sondern vor den Ställen befanden sich in Abständen Feuergruben. Am Ende der Halle führte eine kleine Tür hinter dem erhöhten Sitz des Drichten zu der Kammer, in der Siggeir und Siglind schliefen. Siglind überlegte, welchen Eindruck dieses Gebäude auf die Gefolgsleute ihres Vaters machen würde, denn sie waren an die raschelnden Blätter des Apfelbaums gewöhnt und an das Licht, das dort, wo der Baum stand, in die Halle fiel. Würde ihnen Siggeirs Halle ebenso dunkel und muffig vorkommen wie ihr, als ihr Mann sie bei der Ankunft stolz über die Schwelle getragen hatte... ? Siggeir und zwölf seiner Gefolgsleute standen in Kettenhemden und Helmen am Kopf der Halle. Die Bogen lehnten an der Holzwand hinter ihnen, und die Schwerter waren gegürtet. Einen Augenblick lang spürte Siglind die Spannung und den Zorn ihres Mannes, als er mit seinen blassen Augen hinter dem Gesichtsschutz des Helms den kleinen Trupp Sachsen musterte. Sie schloß schnell die Augen, aber ihrer Hellsicht blieb das Wissen um seine wahren Absichten nicht verborgen. Zweifellos waren alle ihre Ängste berechtigt. Siggeirs Kundschafter mußten das Schiff ausgemacht haben, lange bevor es die Bucht erreicht hatte. Siggeir wußte also, wie vielen Männern, wenn auch nicht, wem er gegenübertreten würde. Wenn Wals und seine Söhne Siggeirs Einladung gefolgt waren, dann wollte er ihnen eine tödliche Falle stellen, obwohl er schlau genug war, zur Begrüßung nicht mehr Männer um sich zu versammeln, als seine Pläne erforderten. Außerdem sollte ein Bote wie Osfrid seinem Drichten nur von einem Gastgeber berichten können, der die Sachsen in allen Ehren empfangen hatte. Aber möglicherweise mußte Siggeir auch seinen eigenen Leuten gegenüber vorsichtig sein, denn ihm war sehr wohl bewußt, wie heimtückisch sein Vorhaben war. Aber jetzt atmete Siglind erst einmal erleichtert auf. Dank, Wotan, Vater der Kriege, dachte sie, für die Kämpfe, die meinen Vater zu Feinden bringen, bei denen er weiß, daß er sich vor ihnen hüten muß. »Seid gegrüßt, Sachsen«, rief Siggeir. »Bringt ihr Nachrichten von meinem Vater Wals?«
»In der Tat«, erwiderte Osfrid.
»Tretet ein und seid willkommen«, sagte Siggeir mit großer Geste. Siglind führte Osfrid zum Ehrenplatz neben Siggeir und wies seinen Leuten den Tisch vor ihm an. Dann ging sie in den Vorratsraum, um Bier zu holen. Als sie mit dem Trinkhorn ihres Mannes und einem zweiten für Osfrid zurückkam, unterhielten sich die beiden bereits. Siglind wünschte nichts sehnlicher, als sich zu ihnen zu setzen und zuzuhören, aber zuerst mußte sie ihre Pflichten gegenüber den Gästen erfüllen.
Endlich hatte jeder Mann sein Bier, obwohl ein oder zwei Sachsen, die an das süßere Getränk in Wals' Halle gewöhnt waren, verdrießlich auf das saure dunkle Bier der Nordländer blickten. Siglind setzte sich neben ihren Mann und wartete darauf, daß er das Gespräch unterbrach und sie an dem teilhaben ließ, was Osfrid erzählte. Aber erst, als sie leise hüstelte, bezog Siggeir sie in die Unterhaltung ein. Sein Mund verzog sich zu einem falschen Lächeln, als er sagte: »Offenbar schlägt sich dein Bruder gut mit dem Schwert.« Aber die Bitterkeit klang deutlich aus seinen Worten.
»Erzähle«, forderte sie Osfrid auf. Siglind hatte oft geträumt - Sonnenlicht funkelte auf der Schlangenklinge, Blut floß über den glatten Kristall, der kalte Stahl durchschnitt Speerschäfte und Schwertklingen, Panzerhemden und Fleisch -, aber jetzt ballte sie aufgeregt die Fäuste, beugte sich vor und wollte hören, ob ihre Träume wahr waren.
Die Erinnerung an ruhmreiche Kämpfe ließ Osfrids Gesicht aufleuchten. »Ich habe niemanden außer Wals so kämpfen sehen wie Sigmund. Er war schon vorher ein vielversprechender Kämpfer, aber mit diesem Schwert in der Hand kann niemand und nichts sich ihm in den Weg stellen. Er bahnte sich seinen Weg durch den wilden Stamm
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