Rheingold
blutige Überreste waren gnädigerweise vom Baumstamm gefallen. Im schwachen Licht des neuen Mondes sah Sigmund schattenhaft noch Alfwards Füße im Holzblock, als säße er noch immer dort. »Er hat ihn... gefressen...«, murmelte Alfarik erstickt. »Ich kann es nicht...« Er wandte den Kopf von den Überresten neben ihm ab. »Er hat nach Siglind gerufen«, hörte man Orngrim, und seine Worte klangen bitter in der Dunkelheit. »Wenn sie uns retten wollte, dann ist etwas geschehen, was es ihr unmöglich macht...«
»Gehört hat man nur ›Sieg‹«, widersprach Wynflad erstaunlich ruhig, obwohl die Worte heiser klangen, als sei ihm die Kehle verbrannt. »›Sieg‹, wiederholte er leise, wir wissen nicht, was er damit gemeint hat. Wir können es nicht wissen. Er konnte nicht weitersprechen ...«
Die Wälsungen schwiegen lange. Als der Himmel langsam hell wurde, blies ein kalter Wind von Norden, und der Blutgeruch würgte Sigmund aufs neue. Rücken, Hals und Schultern schmerzten unerträglich. Die Füße waren kalt und taub, selbst wenn er die Zehen bewegte, spürte er nichts. Ich bin Wals' Sohn, dachte er. Nur Feigheit oder eigenes Versagen kann mich beschämen. Auch wenn ich jetzt gefesselt bin wie ein Tier, das man zur Schlachtbank führt, lebe ich noch und werde mein Schwert von Siggeir zurückholen, wie menschenunwürdig auch jetzt unser Los sein mag... Aber trotz all dieser Gedanken überkam ihn eine bleierne Niedergeschlagenheit.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als ein Mann mit einer großen Holzschüssel und zwei Krügen auf der Lichtung erschien. Sein breites, offenes Gesicht blieb ausdruckslos und unbewegt, als er sich den gefesselten Brüdern näherte. Er bückte sich und gab einem nach dem anderen langsam und bedächtig zu trinken und zu essen. Er füllte die Krüge mehrmals mit Wasser aus einem Bach in der Nähe, bis alle ihren Durst gelöscht hatten. Er sprach nicht mit ihnen; erst als alle satt waren, sagte er: »Siglind hat mich geschickt« und ging davon. »Sie hat uns nicht vergessen«, murmelte Sigmund dankbar für die Unterbrechung, die seine Gedanken von den summenden Fliegen am anderen Ende des Stamms und von den Ameisen ablenkte, die außer Reichweite der gefesselten Hände über seinen Rücken krochen.
»Warum hat er uns nicht befreit?« fragte Wynflad. Er schüttelte sich die verklebten blonden Haare aus der Stirn und sah Sigmund verzweifelt an.
»Siggeir hat bestimmt Wachen aufgestellt«, meinte Alfger. »Er wird vermutlich...«
»Welche Hoffnung besteht dann für uns?« fragte Alfarik ruhig. »Wie Wälsungen zu sterben«, antwortete Wynflad und begann zu singen:
Hei! Wir sind Wälsungen / Wotans Sproß
Wie grausam das Schicksal auch sei / stärker ist unser Mut
kühner schlagen die Herzen / höher steigen die Seelen
keine Angst kann uns schrecken / keine Macht uns entzwein
Hei! Wals' Söhne / werden siegreiche Helden sein.
Plötzlich schwieg er und blickte mit seinen großen braunen Augen erschrocken um sich. Die dicken Backen röteten sich verlegen. »Ich wußte nicht, daß du auch die Kunst der Worte beherrschst«, sagte Bertwini.
»Ich habe noch nie Lieder gemacht«, erwiderte Wynflad. »Ich glaube, die Fesseln haben meinen Geist befreit.« Er lächelte verlegen. »Wenn wir wieder zu Hause sind, werden wir
dich jeden Abend fesseln, wenn das deine Zunge löst«, rief Alfger und blickte bewundernd über Odwig und Orngrim hinweg zu dem jungen Skop. »Wie war das noch? ›Hei! Wir sind Wälsungen, Wotans Sproß... Wie grausam das Schicksal auch sei... ‹?«
›»Stärker ist unser Mut‹«, fuhr Wynflad fort. Es dauerte nicht lange, und alle Wälsungen sangen das Lied gemeinsam, und der heisere Chor übertönte bald das Summen der Fliegen. Bei Sonnenuntergang erschien der Mann wieder und gab ihnen etwas zu essen und zu trinken. Auf ihre Fragen: »Wo ist unsere Schwester?«
»Werden wir bewacht?«
»Kann Siglind uns helfen?« antwortete er nicht. Sein Gesicht blieb so ausdruckslos, daß Sigmund sich fragte, ob der Mann möglicherweise taub sei, oder ob ihre Wächter sich tatsächlich in Hörweite befanden. Der Mann rümpfte nicht die Nase über den Gestank von Blut, Urin und Kot, der sich um die Gefangenen verbreitete. Auch als er zu Alfarik kam, verzog er beim Anblick der Überreste von Wals' jüngstem Sohn keine Miene, aber Alfarik vermochte nur wenige Bissen herunterzuwürgen und schüttelte dann heftig den Kopf.
Die Wälsungen fielen irgendwann völlig erschöpft in
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