Rheingold
einen unruhigen Halbschlaf. Soweit es ihnen die Fesseln erlaubten, bewegten sie sich immer wieder hin und her, um die verkrampften Muskeln zu entspannen.
Sie zitterten vor Kälte im eisigen Wind, der graue Wolkenfetzen über den Himmel jagte. Als Sigmund erwachte, war es dunkel, und dicke Regentropfen fielen laut klatschend auf das Gras. Zu seinem Entsetzen breitete sich trotz Wind und Regen plötzlich eine unheimliche Stille aus. Er blickte sich erschrocken um, konnte aber nichts sehen -nichts, bis ein schwarzer Fleck unter den Bäumen auftauchte, sich in gespenstisches Grau verwandelte, und ihm das laute Wolfsgeheul in nächster Nähe das Blut in den Adern erstarren ließ.
»Komm nur, du Feigling!« rief Alfarik plötzlich laut, »du fällst uns an, weil wir wehrlos sind! Vielleicht bist du ein Wolf, aber du hast die Seele eines Kaninchens - komm nur, du Ausgeburt der Unterwelt! Ich bin zwar gefesselt, aber ich habe keine Angst vor dir!« Seine Brüder jubelten laut bei diesen Worten, und Sigmund war stolz auf Alfarik. Aber wie als höhnische Antwort schoß das graue Gespenst pfeilschnell zwischen den Bäumen hervor und sprang Witrik an die Kehle. Die Baumstämme erzitterten, Blut spritzte, und der Wolf wollte gierig anfangen zu fressen, als Alfarik am anderen Ende des Baumstamms das Lied anstimmte, und ein schauriger Hexentanz begann. Das Untier sprang wie eine Furie in die Luft, heulte und drehte sich mit blutig schäumenden Lefzen im Kreis. Sigmund glaubte fast, es sei ein anderer Wolf, denn jetzt wirkte er viel größer und schien starke schwellende Muskeln zu haben. Plötzlich war er so groß wie ein junges Pferd und stürzte sich im rasenden Blutrausch mit schrecklichem, geisterhaftem Geheul auf Alfarik. Während ihr Bruder unter den Bissen der gräßlichen Bestie für immer verstummte, sangen die anderen das Lied unbeirrt weiter. Der riesige Wolf geriet bei dem Gesang in noch größere Raserei und tötete mit geiferndem Rachen rechts und links alles, was sich bewegte. Ein Blitz zuckte am Himmel, und es donnerte laut. Die Bestie erstarrte im Sprung, und als der Regen wie Peitschenhiebe auf das schreckliche Blutbad niederprasselte, sank sie lautlos in sich zusammen und verschwand in der Nacht.
Die schlanke, zarte Hand einer Frau strich Sigmund über die Stirn und kühlte das glühende Fieber. Er versuchte, die verklebten Lider zu öffnen, aber alles verschwamm vor seinen Augen. Die liebevolle Berührung tat unendlich gut, aber wie sehr Sigmund sich auch bemühte, er sah nur undeutlich goldblonde Haare, eine weiße Haut und strahlend blaue Augen, die wie eine Fackel in dem grauen Nebel leuchteten, der alles einhüllte. »Siglind?« flüsterte er, »Mutter?«
»Sei standhaft«, hörte er die sanfte Stimme flüstern, »verliere nicht die Hoffnung und habe keine Angst. Es leben noch Wälsungen...« »Aber was kann ich tun?« rief er verzweifelt. Der Klang der eigenen Stimme weckte Sigmund. Er blickte sich erschrocken um, aber er sah nur Bertwini an seiner Seite. Die raschelnden Eichenblätter über ihnen färbten sich braun im Licht des kalten Morgens. Bertwini hob schwach den Kopf und starrte seinen Bruder an. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut über den spitzen Knochen war totenbleich unter den bläulichen Wunden. Seine Augen schienen bereits in einem Totenkopf zu sitzen. »Ich weiß nicht«, flüsterte er schwach, und dann fragte er gequält: »Sigmund, wie konnten wir hier enden? Alles ging so gut, als wir aufbrachen. Dann verloren wir die Schiffe im Sturm. Siggeir hätte jeden Kampf gegen uns alle verloren, wenn er einen Kampf überhaupt gewagt hätte ... Wie konnte in drei Tagen alles zerstört werden, was Wals aufgebaut hat? Es heißt, Wotan sei der Vater unserer Sippe. Er stand immer an unserer Seite. Aber wo ist er jetzt?« »Es heißt auch, Wotan verrät am Ende seine Auserwählten«, antwortete Sigmund langsam. »Er hat Wals genug Siege geschenkt. Es war nur gerecht, daß er ihn im Kampf zu sich nahm, anstatt einen nutzlosen alten Mann aus ihm werden zu lassen.«
»Aber was ist mit uns? Was ist mit unseren Brüdern? Auf diese Weise sollte kein Mensch sterben... gefesselt und... und verraten von. ..« »Verraten von dem Mann unserer Schwester«, fiel ihm Sigmund ins Wort und versuchte mit aller Kraft, daran zu glauben. Er mußte husten und spuckte angewidert den grünen Speichel auf die Erde. »Wenn das unser Schicksal ist, dann möge es so sein. Aber noch sind wir nicht tot. Ich werde nicht
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