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Rheingold

Titel: Rheingold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Grundy
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füllen. Du darfst den Honig nicht schlucken. Behalte ihn im Mund, bis der Wolf dich tötet... oder du ihn. Diesen Rat hat mir deine Schwester gegeben.« Er schob Sigmund die nassen Haare aus dem Gesicht und band sie mit einer Lederschnur zurück. Dann griff er in den Topf und beschmierte Sigmunds Gesicht mit dem tropfenden Honig. Der Honig rann ihm in die Augen und verklebte ihm den Bart. Gehorsam öffnete Sigmund den Mund und ließ sich einen Klumpen zwischen die Lippen schieben. Der süße Honig schmerzte zwischen den Zähnen, und er mußte unwillkürlich schlucken. Der Mann schob ihm so lange Honig in den Mund, bis er Sigmund über die Lippen floß und auf das Kinn tropfte.
    »Viel Glück«, sagte er dann, »mein Name ist Awimundur. Wenn du das hier überlebst, vergiß es nicht. Ich bin Siggeir zwar treu, aber ich bin kein Diener übler Hexenkunst.«
    Sigmund nickte schwach und konzentrierte sich darauf, die Kehle mit der Zunge zu verschließen und den klebrigen Honig zu vergessen, soweit das möglich war. Die Augen hielt er geschlossen, und deshalb sah er nicht, wie die Wölfin auf der Lichtung erschien, aber die gespenstische Stille und der kalte Schauer, der ihm über den Rücken lief, warnten ihn rechtzeitig. Sigmund spannte alle Muskeln an und bereitete sich auf den tödlichen Angriff vor. Pfoten huschten über das Gras. Er spürte das lähmende Schwindelgefühl von Zauberkraft um sich und dann den üblen Atem der Wölfin. Ihre Zunge fuhr ihm warm über das Gesicht, als sie begann, den Honig abzulecken. Sigmund wartete geduldig, obwohl ihm das Herz in plötzlicher aufkommender Hoffnung bis zum Hals schlug. Er wagte nicht, die Augen zu öffnen, damit sie seine Gedanken nicht erriet. Die riesenhafte Wölfin leckte die Stirn, dann eine Wange, dann eine andere ab. Sie kaute auf dem Bart und erreichte schließlich seinen Mund. Gierig preßte sich die Schnauze an ihn, und ihre Zunge schob sich weit in seinen Mund, um dort den Honig zu lecken.
    Sigmunds ganze Wut und sein ohnmächtiger Haß brachen bei dieser letzten Demütigung wie ein vernichtender Blitz aus ihm heraus. Er schob den Kopf vor, und ehe die Wölfin reagieren konnte, biß er ihre Zunge an der Wurzel durch. Heißes, salziges Blut schoß hervor und vermischte sich mit dem Honig, und er mußte mehrmals schlucken. Die Erde schien unter ihm zu bersten. Die Bestie sprang mit einem schaurigen Geheul in die Luft, ein Wirbelwind erfaßte Sigmund und riß ihn mit dem Eichenstamm in die Höhe. Dann fiel er auf die Erde. Er hörte einen dumpfen Aufprall und schreckliches Stöhnen - war es ein Mensch oder ein Tier? Er wußte es nicht. Sigmund fühlte sich unwirklich stark und leicht. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er stand. Die Eisenringe um den Baumstamm waren gesprengt. Er spürte, daß ihm Blut über die Knöchel lief, aber er empfand keinen Schmerz. Er trat gegen das Holz, es gab nach, und er war von den Fußfesseln befreit. Dann bückte er sich und schob die gebundenen Hände über die Hüften. Mit dem Rücken zum Baumstamm sank er zu Boden, zog die Beine an und schob die Handgelenke über die Füße. Dann senkte er den Kopf und begann, das Seil durchzukauen. Er mußte immer wieder spucken und würgen, denn er hatte den schrecklichen Geschmack der Wölfin im Mund. Als die letzten Fasern endlich nachgaben, erhob sich Sigmund steifbeinig und humpelte in Richtung Norden. Er verließ, so schnell er konnte, die Lichtung des Grauens, wo die Gebeine seiner Brüder so verstreut lagen, daß niemand mehr sagen konnte, was zu wem gehört hatte. Die unnatürliche Kraft, die Sigmund spürte, seit er das Blut der Wölfin geschluckt hatte, begann langsam nachzulassen. Die entzündeten und aufgerissenen Knöchel und Handgelenke schmerzten wieder, als seien sie noch von den Fesseln umschlossen. Jeder Muskel schien gezerrt und verursachte ihm grausame Schmerzen, während er langsam von Baum zu Baum taumelte. Fieberschauer machten ihn schwindlig und benommen. Doch ein fahler weißer Grabhügel vor ihm zog ihn magisch an. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht und sank auf die Knie.
    Er betastete das Grab und entdeckte, daß ein paar Steine sich gelöst hatten und dadurch ein enger Eingang entstanden war. Als er die breiten Schultern hindurchzwängte, zuckten heftige Stiche durch den mißhandelten Rücken, und er stöhnte gepeinigt auf. Mit letzter Kraft kroch er in die dunkle Kammer, wo ihn die Stille des Todes umgab.

12
DIE STRAFE
    Siglind lag die ganze Nacht wach. Sie

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