Rheingold
Mutter ist etwas Schlimmes geschehen.« Siggeir richtete sich auf und war mit einem Satz aus dem Bett. Er lief zur offenen Tür, Siglind hörte, wie er nach Luft rang und dann stöhnte: »Mutter! Wer hat dir das angetan?«
Siglind folgte ihm. Kalte Angst erfaßte sie. Als sie neben Siggeir stand, quoll ein Tropfen Blut aus Karas schwarzem Mund und fiel rot auf die Erde. Der Geist der Alten mochte noch in dem starren Körper sein, aber ihre Zunge hatte sie verloren. Sie würde niemanden anklagen oder verraten können, daß Sigmund noch lebte. Siggeir versuchte wie Awimundur, die Tote aufzuheben, aber auch ihm gelang es nicht. Schließlich stöhnte er laut auf, weil ihm der verwundete Schwertarm stark schmerzte. In seinen Augen standen Zorn und namenloses Entsetzen. »Welche Hexerei ist hier am Werk?« fragte er Siglind mit tonloser Stimme.
»Awimundur holt eine Seherin, damit wir sie zur Ruhe bringen können«, erwiderte Siglind.
»Ruhe... ja.« Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Dann sagte er klar und entschlossen: »Niemand soll heute sein Haus verlassen. Ich werde eine doppelte Wache um die Halle stellen. Keiner, der hier nichts zu suchen hat, darf sich diesem Ort nähern. Siglind, lauf zu Guntor. Er soll die Männer zusammenrufen, die hier Wache stehen müssen, bis das alles erledigt ist. Dann kannst du mit Helche die Halle vorbereiten, damit wir heute abend das Totenfest für meine Mutter feiern können. Ich finde, es soll noch heute stattfinden, damit kein Zweifel darüber besteht, daß Kara von meinem Volk die Ehre zuteil wird, die ihr als meiner Mutter zusteht.« Siglind nickte und drehte sich schweigend um. Siggeir starrte auf den entstellten Leichnam und sagte leise: »Bring mir eine Decke. Ich kann diesen Anblick nicht länger ertragen.«
»Aber das Licht der Sonne muß auf sie scheinen«, entgegnete Siglind erschrocken. »Nur das helle Tageslicht kann uns vor ihr schützen...« Siggeir schüttelte energisch den Kopf und sagte fest: »Ich werde bei meiner Mutter Wache halten, solange es notwendig ist. Was auch immer sie getan hat, als sie noch lebte, das hat sie für mich getan. Jetzt ist sie tot, und ich muß ihren Zorn ebensowenig fürchten wie mein Volk, wenn ich in dieser schweren Stunde nicht von ihrer Seite weiche. Aber geh und bring die Decke, denn niemand soll das sehen müssen.« Siglind trat in die Kammer und nahm die blaue Decke von ihrem Lager; voll Schaudern dachte sie daran, daß sie nie wieder ruhig unter dieser Decke würde schlafen können. Aber dann beruhigte sie sich bei dem Gedanken, daß nichts einfacher sein würde, als sie zusammen mit den anderen Grabbeigaben zu verbrennen. Wortlos reichte sie Siggeir die Decke, der sie schnell über die Tote breitete. Dann lief sie den Hügel hinunter zu Guntors Haus und klopfte an die Tür.
»Was ist los?« rief Guntor verschlafen.
»Der Drichten ruft dich! Du mußt Männer für eine Wache einteilen. Niemand darf sich der Halle nähern, aber heute abend findet ein Totenfest statt.«
Die Tür flog auf, und Guntor starrte sie mit großen Augen an. Er hielt sich eine Tunika vor den nackten Körper. »Was ist geschehen?« fragte er.
»Siggeirs Mutter ist tot.« Siglind konnte den Triumph nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen, aber sie sah, daß Guntor erleichtert aufatmete, ehe er ernst sagte:
»Ich komme sofort und werde alles in die Wege leiten.« Dann schloß er verlegen die Tür.
Als Siglind wieder oben auf dem Hügel war, ging sie sofort in die Halle, wo Helche wie immer vergebens versuchte, die übermütigen Kinder zu zähmen.
»Geh in die Vorratshäuser, bereite alles für eine Totenfeier vor. Sag es auch den anderen Frauen. Ich werde mich um die beiden kümmern.« Als Helche noch etwas fragen
wollte, sagte Siglind schnell: »Geh jetzt. Ich komme gleich nach.«
Helche eilte erschrocken davon. Siglind nahm ihre Söhne bei der Hand, die sie, noch immer in ausgelassener Stimmung, fest drückten. Gerade in diesem Augenblick tat Siglind die Liebe der Kinder besonders gut. Dann setzte sie sich mit ihnen an einen Tisch, blickte zuerst Teudorik in die Augen und dann Harigast. Sie spürte den blitzenden Funken, wie sie ihn nur bei Sigmund oder ihrem Vater kannte. Das bestärkte sie in der Hoffnung, daß das Blut der Wälsungen in ihnen floß, und sie dachte: Es muß nur geweckt werden wie eine Schlange nach einem langen Winter. Sicher wird das Unheil die heißen Flammen in ihren stillen Seelen entzünden... Siglind wußte, es würde
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