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Rheingold

Titel: Rheingold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Grundy
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wischte sie sich mit dem Handrücken die weiße Sahne von der Oberlippe und begann, Brot, Fleisch und Käse so gierig zu verschlingen, als sei sie halb verhungert. Sie biß das Brot in großen Stücken ab und ließ die Krümel achtlos auf ihren dunkelgrünen Rock und ins Gras fallen. Siglind stellte plötzlich fest, daß sie die Frau unhöflich anstarrte, und wandte schnell den Blick ab, um die Seherin nicht zu beleidigen.
    Der Holzteller war im Handumdrehen leer. Freydis stand auf, schüttelte den Rock aus und lächelte Siglind dankbar an. Sie hat zwar braune Zähne, aber noch keine Lücken, dachte Siglind. »Möchtest du noch mehr?« fragte Siglind beklommen. »Danke, für den Augenblick reicht es. Wie hast du es getan?«
    »Was... ?«
    »Karg getötet?«
    Siglind legte die Hand erschrocken auf die Brust und wich einen Schritt vor der Seherin zurück, die sie mit ihrem goldweißen Blick durchbohrte.
    Freydis ließ Siglind nicht aus den Augen. Aber sie sagte beruhigend: »Ich werde dir nichts tun, Siglind, und ich werde auch keinem Menschen etwas sagen. Aber es ist sehr wichtig, daß ich weiß, was geschehen ist.«
    Siglind sah sich unsicher um. Sie standen beide ganz allein in der Nähe der niedergebrannten Hütte. Im weiten Umkreis war alles still, so wie es Siggeir befohlen hatte. Siglind schlug die Augen nieder und berichtete Freydis schnell von Wals, dem Schicksal ihrer
    Brüder und von dem Honig, mit dem sie Sigmund gerettet hatte. »Ich wußte nicht genau, was ich eigentlich damit erreichen wollte«, gestand sie leise. »Ich hoffte nur..., daß er sie irgendwie fassen und zwingen würde, ihn zu befreien. Ich hatte gedacht, Wotan würde meine Brüder beschützen, aber als Awimundur mir erzählte, daß alle bis auf Sigmund von der Bestie getötet worden waren, wußte ich, daß ich etwas tun mußte. Aber ich hatte geschworen, nicht zu ihnen zu gehen oder zu versuchen, sie zu befreien...«
    Die Seherin seufzte. »Dein Zwillingsbruder hat ihr also die Zunge abgebissen. Vermutlich hat er dabei etwas von ihrem Blut geschluckt.« Sie schwieg nachdenklich, dann sagte sie: »Du mußt wissen, deine Seele ist jetzt auch befleckt. Es besteht die Gefahr, daß du etwas Ähnliches wirst wie sie, denn dein Bruder hat mit Karas Blut auch ihre Hexenkunst getrunken.«
    »Sigmund und ich...«, begann Siglind, aber sie sprach nicht weiter, sondern fragte: »Was soll ich jetzt tun?«
    »Bewahre deine Bande zu den Menschen, vergiß nicht deine Familie und deine Eide vor den Göttern.«
    »Aber Wals muß gerächt werden!« rief Siglind, »und alle meine Brüder ... wie sollte ich nicht an eine Rache denken, die ihren Tod ehrt!« Freydis seufzte und sagte: »Du hast offenbar deinen Entschluß gefaßt, und nichts, was ich sage, wird daran etwas ändern. Komm, hilf mir
    jetzt mit der Leiche. Allein kann ich sie nicht auf die Stute heben.«
    Siglind folgte der Seherin zur Rückseite der Halle. Dort stand die dunkelbraune Stute immer noch geduldig neben der toten Kara, als halte sie mit Siggeir und seinen Kriegern Wache. Freydis rief dem Drichten schon von weitem zu: »Schickt die Wachen nach Hause, und du mußt dich jetzt ausruhen!« Siggeir erhob sich steifbeinig und gab Guntor ein Zeichen, der mit den sichtlich erleichterten Männern eilig verschwand. Siggeir drehte sich wortlos um, ging in seine Kammer und schloß die Tür hinter sich, ohne noch einen Blick auf seine tote Mutter zu werfen. Freydis nickte Siglind zu, und die beiden Frauen bückten sich und packten die Leiche. Kara war noch immer unnatürlich schwer, und bei der Berührung schienen Siglind die Finger zu erstarren, aber es gelang ihnen, die Tote aufzuheben und auf den Rücken der Stute zu legen. Das Pferd verdrehte die Augen, blähte die Nüstern und wieherte, aber es warf die unheimliche Last nicht ab.
    Awimundur erschien mit den Stöcken und rief: »Ich habe Männer hinunter ins Torfmoor geschickt, die die Grube ausheben. Wenn ihr bereit seid, können wir sie dorthin bringen.«
    Freydis nahm ihm die Stöcke ab und betrachtete sie sorgfältig - einen nach dem anderen. Sie fuhr mit den Fingern über das Holz, als prüfe sie es auf verborgene Fehler. »Sie sind in Ordnung«, sagte sie schließlich
    und fügte hinzu: » Geht schon voraus, ich muß jetzt allein sein.«
    Awimundur und Siglind gingen zusammen die Anhöhe hinunter. Von Karas Hütte stieg nur noch eine dünne graue Rauchsäule auf, die nach Torf, Stroh und Holz roch. Der Wind trieb den Rauch auseinander, und er

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