Rheingold
goldenen Scheibe, die auf dem Brustkorb des Skeletts lag. Lange Haare und der weiße Bart wanden sich wie Silberfäden durch eine rotschimmernde Goldkette. Auf der Scheibe funkelten vierundzwanzig winzige Runen, die in ihren goldenen Rand geritzt waren. Rotes Licht glitzerte in den Linien der stilisierten Figuren eines Mannes, eines Pferdes und eines Adlers in ihrer Mitte.
Als das Skelett sich langsam aufsetzte, wich Sigmund erschrocken in die Richtung zurück, in der er den Eingang vermutete, aber er stieß nur gegen kalten bemoosten Stein. Die knochigen Hände des toten Mannes -überzogen von spröden Sehnen und mit langen schwarzen Nägeln, die so spitz waren wie die Krallen von Raben - griffen nach Sigmund. Er tastete sich am Stein entlang und wich der gespenstischen Gestalt so weit wie möglich aus. Das Wesen erhob sich und folgte ihm -langsam, aber zielbewußt und mit erschreckender Kraft. Sigmund wußte, er saß in einer Falle. Er befand sich in der Welt der Untoten, und er würde sterben.
Zum Kämpfen entschlossen, kauerte sich Sigmund sprungbereit auf dem Boden zusammen und wartete, bis der Erulier beinahe über ihm stand. Als sich die krallenartigen Fingernägel seinen Schultern näherten, warf er sich mit aller Kraft gegen den Toten; im nächsten Augenblick lagen sie beide am Boden. Das Wesen war erschreckend stark, aber der trockene Körper hatte nur das Gewicht der Knochen und kam Sigmund federleicht vor. Wenn er jedoch zupacken wollte, wich ihm das Wesen geschickt aus, und die Klauen griffen wieder nach seinen Augen. Als der Erulier ihn schließlich zu fassen bekam, konnte sich Sigmund kaum aus dessen Würgegriff befreien. Sein Keuchen wurde von den Steinwänden der Grabkammer zurückgeworfen, während sie miteinander rangen. Plötzlich verfing sich sein Fuß in dem Wolfsfell am Boden. Er war wie gelähmt, und eine schreckliche Angst erfaßte ihn; er sah die roten Funken in den Augenhöhlen des Schädels dicht vor sich, spürte die Krallen in seinem Nacken und stürzte. Aber noch im Fallen fühlte er den glatten Kristall seines Schwerts in der Hand. Augenblicklich begann ein warmer Strom durch seinen Körper zu fließen, der das eiskalte Skelett, das auf ihm lag, wie Feuer zu verbrennen schien. Sigmund packte das sich windende und zuckende Wesen und hob es über seinen Kopf. Dann stand er langsam auf und hielt den Erulier auf Armeslänge von sich. Er schob ihn gegen die Felswand und preßte das Skelett mit der Kraft der Verzweiflung gegen den Stein.
Bald wehrte sich der Erulier nicht mehr und hing schließlich schlaff in seinen Händen. Das Phosphoreszieren wurde stärker, und Sigmund sah, wie sich der Kiefer der Leiche bewegte. Ein kalter Atem entströmte dem Schädel, der nach Moder roch. Sigmund keuchte und hustete. Er hörte schwach die rasselnde Stimme eines Mannes - nicht in der Grabkammer, sondern in seinem Kopf.
»Wer hat Widukund aus dem Schlaf geweckt?« fragte die Stimme. Sigmund verstand zwar inzwischen verschiedene Sprachen, aber die Worte des Eruliers klangen, als kämen sie aus einer fernen Zeit und waren seltsam entstellt.
Er konnte sie kaum verstehen. Doch als er in die roten Funken blickte, die in den Augenhöhlen glühten, wurde ihm der Sinn der seltsamen Worte verständlicher. »Wer hat mich aus der heiligen Halle geholt, wo ich saß, um auf den nassen Pfaden und den weiten Wegen durch die Welten zu wandern?«
»Ich bin Sigmund, der Sohn von Wals«, erwiderte Sigmund stumm. »Wer bist du, toter Mann?«
»Ich bin Widukund und Wodila, Rabanaz und Widugast, Wiwaz und Ansula von Herulien, Runenmeister und Mannaz-Wotanas. Aber ich frage dich, Sigmund, der Wolftöter, was willst du von mir wissen? Weshalb bist du gekommen, um die Stille meines Grabes zu stören? Drei Fragen werde ich dir beantworten, mehr nicht.«
»Wann werde ich meinen Vater rächen?« fragte Sigmund stumm. »Einer der Söhne deiner Schwestern wird ein echter Wälsung sein. Wenn er durch dich ein Held geworden ist und an deiner Seite steht, wirst du dein Schwert zurückgewinnen, und Wals wird gerächt durch das Feuer, das ihr beide legt, um Siggeirs Halle zu verbrennen.«
»Wie soll ich wissen, welchem von Siglinds Söhnen ich trauen kann?«
»Prüfe mit dem Runengift, welcher der Söhne ein wahrer Wälsung ist. Du hast durch deine Stärke meine Kraft gewonnen. Dir soll kein Gift schaden, weder innen noch außen. Die Männer deines Geschlechts werden außen dagegen geschützt sein, nicht aber innen.« Seine
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