Rheingold
Arme es nicht länger halten konnten. Wenn der Wind abflaute, wanderte Siglind allein in den Wald, lief unter den schwarzen Bäumen zu der Lichtung, wo unter dem hohen Schnee die Eichenstämme lagen, und trauerte um ihre toten Brüder. Unter der eisigen weißen Schneedecke spürte sie die Qual ihrer Fesseln und das Entsetzen ihres Sterbens unter den Bissen der Wölfin. Ja, die toten Wälsungen warteten auf die Rache, die all das Böse auflösen würde, das in die Erde gesickert war. Nur dann würde der Schrecken auf dieser Lichtung vergehen, die wie unter einer riesigen erstarrten Schlange begraben war. Der stumme Klageruf der Brüder tönte anklagend in Siglinds Herzen und bohrte sich ihr wie ein spitzer Dolch in den Kopf. Wenn Siglind dann von ihrer Wanderung durch den dunklen Tag zurückkehrte, und die wenigen Männer, die noch zur Halle kamen, sie sahen, flohen sie vor ihrem gejagten Blick, und Siglind hörte sie leise miteinander flüstern.
Das Julfest war freudlos und kärglich. Das meiste Bier war bereits bei den Totenfeiern im Herbst getrunken worden, und wegen der Kämpfe in den Kornfeldern gab es auch zu wenig Getreide. Die Stimmen der Bauern und Gefolgsleute klangen laut und hohl im niederen Gebälk der Halle, als die Männer ihre Schwüre riefen, während Siggeir einen schwarzgefleckten Eber - den besten Eber der Herde, den sie Ingwi-Freyr weihten - durch die Halle führte. Und als der Drichten seinen Eid sprach, hörte man höhnisches Lachen: »Bei den Borsten des Ebers schwöre ich, daß Ingwi¬Freyr mich nicht verstoßen hat! Zwar habe ich die Mutter verloren, aber durch meine Mutter Erde werde ich mehr gewinnen, als ich durch mein Erbe bekommen habe! Ich habe zwar meinen ältesten Sohn verloren, aber ich werde einen anderen, stärkeren Sohn zeugen, um seinen Verlust wettzumachen! Das schwöre ich, ich, Siggeir, der Ingling!« Der Jubel klang matt, aber zum ersten Mal, seit der Schnee fiel, kam er bereitwillig und übertönte Siglinds leise Worte, als ihre Finger die rauhen Borsten des Ebers berührten. Als der Lärm sich legte, hörte sie das erregte Gemurmel der Menschen in der Halle und wußte, was sie flüsterten. Mit seinem Eid hatte Siggeir das Urteil der Götter herausgefordert. Wenn sein Glück ausblieb, wenn ihr Leib bis zum nächsten Julfest keinen Sohn trug, wenn er in seinen Schlachten keine Siege errang oder die Felder keine reiche Ernte trugen, dann würde das Volk sein Leben fordern, um das Land mit seinem Blut zu tränken; diesen Preis sollten die Ingling-Könige bezahlen, wenn ihre Herrschaft nicht mehr von den Göttern gesegnet wurde. Thonris Monat wurde noch kälter und bitterer. Die Bretter, mit denen die Öffnungen in den Wänden der Halle und der Hütten vernagelt waren, klapperten im Sturm. Die Strohdächer knisterten, knackten und bogen sich unter der Last des tiefen Schnees. Nur Agantiwar, Guturmar, Awimundur und Halgi kämpften sich durch den Schneesturm zur Halle, um mit ihrem Ritter Thors Fest mit dem dünnen, mit geschmolzenem Schnee vermischten Bier zu feiern. Sie tranken auf den rotbärtigen Gott, den Hüter der Mittelerde und beschworen ihn, die Eisriesen mit seinem Hammer zu vertreiben. Eineinhalb Monate waren seit dem Julfest vergangen, bis endlich die Eiszapfen zu tropfen begannen und die Erde nicht länger hart gefroren unter den Schritten klang, sondern schlammig nachgab, wenn Siglind über den Hof ging. Sie sah die hervorstehenden Hüftknochen und die knöchernen Rippen unter den Kleidern der Knechte und Krieger. Die eingefallenen Gesichter der Bauern waren grau vor Hunger, wenn sie das kärgliche Mahl mit Wasser verdünnten. Einige Rinder und Pferde konnten sich vor Schwäche nicht mehr auf den Beinen halten und lagen auf den Knien. Sie blickten mit riesigen Augen anklagend über die Holzplanken, die die Ställe von der Halle abteilten. Eine Stute und ein Stier waren bereits tot. Mit den fleischlosen Knochen kochten sie Suppe. Aber um die Mitte des Monats warfen die Schafe ihre Lämmer. Das Wasser schoß brausend und donnernd die Berge hinunter und riß braune Erde und welkes Laub mit sich. Nachts überzogen zwar noch Eiskristalle als graubraune Kruste die Felder, aber sie tauten tagsüber in der Sonne. Und mit bangem Herzen wußte Siglind, daß das Gift des Eruliers bald an den Tag bringen würde, ob Harigast ein echter Wälsung und zum Rächer ausersehen war.
*
Siggeir und Siglind saßen drei Tage später zusammen in der Halle, als Arnwald und drei seiner
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