Rheingold
Knechte erschienen. Sie trugen die durchnäßte Leiche von Siggeirs zweitem Sohn. Alle Knochen im Leib waren zerbrochen, der Hinterkopf war aufgeschlagen, und das Wasser hatte Blut und Hirn aus den blonden Haaren gewaschen. Siglind schloß die Augen. Sie hatte geahnt, daß er der dunklen Macht so wenig entgehen würde wie sein Bruder.
Der Drichten regte sich nicht, als Arnwald, der Bauer mit den schwarzen, dichten Haaren, sagte: »Wir haben ihn im Bach gefunden, der wie ein reißender Strom geschwollen ist. Vielleicht ist er auf einem Stein ausgerutscht und ins Wasser gefallen. Die Schneeschmelze in diesem Jahr macht alle Gewässer sehr gefährlich ...« Der Mann schwieg verunsichert und sagte dann stockend, »und wir alle wissen ... die Wassergeister, die Nöck... sind ausgehungert... am Ende des Winters.«
Siglind hörte dem Mann nicht zu, denn er wußte nichts. Sie sah die Bißwunde der Schlange am linken Fuß, der geschwollen und bereits bläulich schwarz war. Das Gift hatte Harigast schnell getötet. Er hatte die Prüfung nicht bestanden. Auch er war kein Wälsung, sondern Siggeirs Kind, und deshalb mußte er so früh sterben. Der Drichten sah seine Frau an. »Jetzt sind unsere beiden Söhne nicht mehr, aber wir haben Hammer und Amboß, um andere zu schmieden.« Er strich mit dem dünnen Zeigefinger sanft über ihre eingefallene Wange. »Harigast soll mit allem, was er braucht, der Erde zurückgegeben werden, aber wir müssen für neues Leben sorgen.«
Tiefe Kummerfalten zogen sich durch sein Gesicht; Hunger und Leid ließen ihn eingefallen und kraftlos wie einen alten Mann erscheinen. Daran änderte sich auch nichts, als er entschlossen aufstand, seine Frau mit sich in die Kammer zog und den Bauern mit den drei Knechten und ihrer traurigen Last in der Halle stehen ließ.
Es änderte sich auch nichts, als Siggeir mit dünnen Lippen über den harten Zähnen seine Frau küßte, ihre Hüftknochen und Rippen aneinanderstießen, und er versuchte, ihrem ausgemergelten Leib mit rauhen kalten Händen neue Wärme zu geben und den Hort der Fruchtbarkeit zu wecken, der in der knochigen Wiege ihres Beckens schlummerte.
Siglind taute bei der gewohnten Berührung etwas auf, aber die Fesseln des Winters und das kalte Gift, das ihre Söhne gefordert hatte, verhinderten, daß die Erstarrung sich in ihr löste. Sie spürte, wie ihr Mann sich entspannte, als er gekommen war. Seine drahtigen Muskeln wurden schlaff, und die tiefen Falten auf seiner Stirn verwischten sich wie die Furchen eines gepflügten Felds in heftigem Regen. »Siehst du«, flüsterte er und drückte ihren knochigen Körper an sich, »wir haben nicht alles verloren, Liebste.«
»Nein«, murmelte Siglind, »das haben wir nicht...« Und ein Gedanke begann sich in ihr zu formen - ein Gedanke, der sie vor Erregung und Angst zittern ließ, denn sie sah in sich ihr Spiegelbild, spürte anstelle von Siggeir eine Berührung, die ihre ureigenste war. Aber sie konnte und wollte nicht benennen, was sie plötzlich als Wunsch spürte. In ihr klang nur das Echo der schicksalschweren Worte, die der Erulier gesprochen hatte: Siggeir wird keine lebenden Söhne mehr haben...
*
Mit dem neuen Monat wurden die Tage länger. Und das Licht sorgte dafür, daß die Kälte langsam zurückwich. Die Abende wurden wärmer und heller, bis Freyrs Wagen vom großen Hof ins Tal rollte, wo die Godhis und Gydhjas die heiligen Bildnisse der Götter aufbewahrten und ihnen an den großen Festtagen Opfer darbrachten. Die Gydhja, die in diesem Jahr in Freyrs Wagen saß, war ein junges Mädchen, nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Die blonden Locken schmückten Birkenzweige mit dichten hellgrünen Blättern. Unter dem schweren grünen Umhang trug sie nichts. Alle Leute liefen zusammen, als der Wagen vorüberkam. Der Jubel, der durch die kalte Luft hallte, galt der Macht, die das Leben zur Erde und zu allen, die auf ihr lebten, zurückbrachte. Sie bewirteten die Gydhja, so gut sie konnten, und wer den Winter überlebt hatte, versammelte sich in der Halle, um Freyr und seine Priesterin zu ehren. Das grobgeschnitzte hölzerne Bildnis des Gottes thronte auf dem Sitz des Drichten . Der große Phallus ragte als Zeichen der Fruchtbarkeit und des Segens, den der Gott den Menschen schenkte, weit vor. Die Eichel war so groß wie eine Männerfaust. Sie glänzte braun und war glatt von den Händen, die sie seit vielen, vielen Jahren umfaßten. Für Freyr und seine Priesterin schenkte man das
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