Rheingrund
trist und meinten damit vor allem die braunen Bodenfliesen aus den 70er-Jahren. Auf dem gefliesten Sockel reihten sich nun statt Blumenvasen die Aktenordner aneinander.
Norma sprang auf. Oben auf dem Regal gähnte der Kater. Er reckte sich nach Katzenmanier und fuhr sich mit den Vorderpfoten durch den blaugrauen Pelz. Norma wühlte in den Jackentaschen, bis sie das Telefon endlich zu fassen bekam.
»Hast du es dir überlegt, Norma?«, fragte Lutz. »Übernimmst du den Rheinsteig?«
Sie hatte sich längst entschieden, wollte Lutz nur ein wenig zappeln lassen. Zurück am Schreibtisch, fragte sie: »Warum bittest du nicht Ruth? He …!«
Sie schreckte vor dem Kater zurück, der sich wie ein Klotz auf den Schreibtisch plumpsen ließ, um danach, über ihre Schulter hinweg, mit einem weiten Satz auf den Boden zu hechten.
»Norma? Bist du noch dran? Ist was passiert?«
»Alles in Ordnung!« Sie lachte. »Nur ein Scheinangriff von Poldi.«
»Was geht dich der Kater deiner Vermieterin an? Dass du das verfettete Biest überhaupt hereinlässt!«
»Ich mag das verfettete Biest.«
»Selbst schuld!«, schimpfte Lutz. »Wieso sollte ich Ruth fragen?«
»Meinetwegen auch Inga oder Martin Reber. Die gesamte Familie einschließlich Martin Reber ist anscheinend in jeder freien Stunde auf dem Rheinsteig unterwegs.«
»Wie so viele andere auch! Norma, ich will mich nicht auf Freizeitwanderer verlassen. Ich brauche jemanden, der sich auf das Recherchieren versteht.«
»Du übertreibst, Lutz. Ruth könnte das ebenso gut wie ich. Du willst mir nur ein wenig Ablenkung verschaffen.«
»Das gebe ich gern zu. Die Arbeit im Freien wird dir gut tun.«
»Einverstanden, Lutz. Je weniger ich an die kommenden Wochen denken muss …«
»Wir werden den Prozess zusammen durchstehen, Norma.«
Der Hals wurde ihr eng. Lutz hielt unverdrossen zu ihr. Vorwürfe und Ablehnung hätte sie, nach allem, was geschehen war, besser verstanden. Sie räusperte sich, bevor sie erklärte, sie wolle für ein paar Tage nach Berlin. »Der Rheinsteig muss sich gedulden.«
»Du kannst dir die Touren einteilen, wie es dir am besten passt«, versicherte Lutz zufrieden. Er wünschte ihr eine gute Reise, ohne nach dem Anlass zu fragen.
Norma tippte Lamberts Geschäftsnummer ins Telefon. Herr Lambert sei für geraume Zeit auf Reisen, lautete die Auskunft einer jung klingenden Frauenstimme, und eine Handynummer würde grundsätzlich nicht herausgegeben.
Schlechtes Timing, dachte Norma, ohne sich davon abschrecken zu lassen. »Es geht um eine dringende Familienangelegenheit. Sagen Sie ihm, er soll mich bitte anrufen.«
Sie diktierte Namen und Telefonnummer.
Die Dame wiederholte die Angaben. »Sie leben in Wiesbaden? So ein Zufall! Wo Kai doch gerade …«
»Er ist also hier in der Stadt?«
»Das habe ich nicht gesagt!«
Anfängerin! Norma bedankte sich mit besonderem Nachdruck und nahm sich die Liste der Hotels und Gasthöfe in Wiesbaden und Umgebung vor, die ihr schon so manches Mal nützlich war. Sie begann mit den teureren Häusern. Das Hotel, in dem sie endlich fündig wurde, gehört zu der Rubrik ›solide und günstig‹.
»Herr Lambert ist außer Haus«, erklärte der Mann am Telefon bereitwillig. Im Hintergrund klirrte Geschirr, als sei der Anruf in der Küche angenommen worden. »Kann ich Herrn Lambert etwas ausrichten?«
»Danke, ich melde mich wieder«, antwortete Norma und legte auf.
8
Ein Schauer prasselte auf das Autodach, als sie vor dem Opelbad hielt. Nur wenige Wagen standen auf dem Parkplatz des Freibads, das nicht allein bei den Wiesbadener Bürgern als eines der schönsten Freibäder Deutschlands galt und dank der Aussicht sogar Norma, die keine begeisterte Schwimmerin war, immer wieder hineinlocken konnte. Auch das Gebäude selbst, im Bauhausstil errichtet, war sehenswert. Nun im April wartete das Bad noch auf wärmere Tage. Norma begutachtete im Rückspiegel ihre Stirn. Unter dem Haaransatz hatte sie am Morgen einen blauen Fleck entdeckt, eine Folge der Ohnmacht. Beim Draufdrücken tat es weh. Das Make-up, das sie darübergetupft hatte, löste sich auf, und den Rest würde der Regen erledigen. Sie fand keinen Schirm im Wagen, hatte aber wenigstens die Regenjacke dabei.
Mit der Kapuze über dem Kopf stieg sie den steilen Fußweg zum Neroberg hinauf. Der Muskelkater zwickte in den Oberschenkeln; vor allem auf den letzten Schritten, die über rutschiges Pflaster führten. An klaren Tagen bot Wiesbadens Hausberg einen weiten Ausblick
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