Rheingrund
Eine strahlende Sonne brachte die Erde zum Dampfen, bis der Nebel in zarten Rauchkegeln zwischen den Baumwurzeln emporstieg. Der Wind strich mit frühlingshafter Frische aus dem Rheintal herauf. Martin nahm eine Hand von der Lenkstange und schloss mit geübtem Griff den Reißverschluss am Hals, ohne an Fahrt zu verlieren. Er war mit dem Wagen gekommen, hatte von Eltville aus das Waldgasthaus ›Die Rausch‹ angesteuert und dort das Rad abgeladen. Nun folgte er der Wegmarkierung, einem blauen Schild mit angedeutetem weißen ›R‹, ohne sicher zu sein, ob das Radfahren auf den schmalen Passagen überhaupt erlaubt war. Im Grunde kümmerte ihn das nicht. Bisher hatte sich kaum ein Wanderer beschwert, und wenn, war er im Nu auf und davon. Gleich das erste Stück führte steil ansteigend durch den Buchenwald hinauf auf eine Kuppe, hinter der sich die Landschaft öffnete und den Blick auf den Weinort Kiedrich mit seinem alles überragenden Kirchturm lenkte. Martin hielt an und trank einen Schluck aus der Wasserflasche, beobachtet von neugierigen Schafen, die ihre voluminösen Fellkörper auf viel zu zierlichen Beinen über die Weide trugen. Falls die Tiere blökten, hörte er es ebenso wenig wie das Zwitschern der Vögel. Über die Kopfhörer versorgte ihn der am Hals baumelnde MP3-Player mit seiner Lieblingsmusik aus den 60ern. Beim Weiterfahren hielt er sich rechts und folgte dem Weg am Waldrand und bald in den Wald hinein, bis er wiederum ins Freie gelangte und sich erneut die Sicht auf die vertraute Landschaft des Rheingaus auftat. Hier gab es als Besonderheit den runden Bergfried der Burgruine Scharfenstein zu entdecken. Wie ein Fingerzeig ragte er zwischen den Weinbergen auf. Martin wechselte auf einen befestigten Weg, der ihn noch rascher vorankommen ließ. Mit kraftvollem Tritt hielt er auf den Turm zu, vorbei am ›Weinberg der Ehe‹, auf dem die Gemeinde Kiedrich seit Jahrzehnten für jedes getraute Brautpaar einen Weinstock pflanzte und der Martin auf die Frage brachte, wie viele der Verbindungen wohl noch bestehen mochten.
Energisch trieb er das Rad die Steigung hinauf. Nach dem Auf und Ab entlang des Wanderpfads freute er sich darauf, das Rad laufen zu lassen. Man konnte ihm vieles nachsagen, aber nicht, dass er trödelte. Vor allem nicht, als es nun bergab ging! Mit ›What goes up must come down‹ von ›Blood, Sweat and Tears‹ im Ohr lehnte er sich gegen den Fahrtwind und genoss den Luftzug auf der Stirn. Einen Helm trug er nicht, nur eine Brille, weil seine Augen leicht tränten. Helle Vogelschreie übertönten die Musik und lenkten seine Aufmerksamkeit auf den Bergfried. Ein Dohlenpaar umkreiste die Turmspitze. Als Martin den Blick senkte, bemerkte er etwas Längliches in der prallen Sonne, es lag quer auf dem aufgeheizten Asphalt. Ein Stück Plastik, ein olivgrüner Gartenschlauch. Martin beugte sich vor, beschleunigte nochmals und peilte die Mitte des Schlauchs an: ein willkommenes kleines Hindernis. Als er fast dran war, fiel ihm ein verdicktes Ende des Schlauchs auf. Seltsam. Einen Pedaltritt später wurde der Schlauch lebendig. Eine Schlange! Sie richtete sich im vorderen Drittel auf, hob vom Boden ab und flüchtete mit explosiven Wellenschlägen. Martin erwischte das letzte Stück. Es gab einen Rumpler, und beinahe wäre er kopfüber im Efeu gelandet, das die Grundmauern der Ruine überwucherte. Mit einem halsbrecherischen Schlenker gewann er das Gleichgewicht zurück und sprang vom Rad. Vorsichtig näherte er sich der Schlange. Sie erschien ihm riesig. Lautlos drehte sie den hellen Bauch gegen die Sonne und riss das Maul auf. Martin beobachtete das Tier aus sicherem Abstand und schaute, hin und her gerissen zwischen Ekel und Faszination, seinem Todeskampf zu. Die Schlange wand sich auf der Stelle und versuchte vergeblich, das schützende Dickicht zu erreichen. Der Reifen hatte ihr das Rückgrat gebrochen. Martin erkannte den Abdruck des Profils auf dem zerquetschten Körperteil. Allmählich wurden die Bewegungen schwächer. Zwischen zwei Weinstöcken fand er einen abgebrochenen Ast und schob das Ende mitten unter das Tier. Die Schlange zitterte und krümmte sich, leistete aber keinen Widerstand, als er sie in die Luft hob. Sie öffnete das Maul, hatte aber nicht mehr die Kraft, den Kopf zu heben. Anderthalb Meter, schätzte er und betrachtete die fremdartigen Augen. Über dem Ast baumelnd, starb sie. Angewidert schleuderte er das Tier an den Wegrand, wo es reglos liegen blieb. Eine
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