Rheingrund
Irgendeine Premiere heute Abend? Wie auch immer, musste er sich eingestehen, ich lasse mich mitschleppen wie ein Pudel an der Leine. Zu selten begehrte er auf, blieb zu Hause und malte sich bei einem Glas Wein aus, wie sie einen anderen Mann kennenlernte. In der Jawlensky-Ausstellung oder auf der Kunst- und Antiquitätenmesse. Oder sie fing endlich ein Verhältnis mit ihrem Installateurmeister an. Er würde sie ohne Bedauern ziehen lassen. Fast drei Jahrzehnte Eheleben waren mehr als genug.
Er war 20, Sandra eben 19 geworden, als sie heirateten, blutjung wie so viele Paare in der DDR. Nur ein halbes Jahr nach der Hochzeit kam Nicolas auf die Welt. Sandra war Martin so oft in die Quere gekommen und merkte es nicht einmal. Ihretwegen hatte er die erste Flucht verpasst. Bernhard hatte alles organisiert; der listige Fuchs, der er mit 22 bereits war. Sie wollten einen Urlaub am Schwarzen Meer nutzen und von dort nach Griechenland fliehen. Am verabredeten Ort wartete Bernhard vergeblich auf seinen Freund, der es nicht schaffte, sich von Frau und Kind loszueisen. Sandra hatte in ihrer Arglosigkeit alles vermasselt. Sie wusste bis heute nicht, wie haarscharf sie schon damals an der Trennung vorbeigeschliddert war. Drei Jahre später gelang Martin tatsächlich die Flucht – wiederum dank Bernhard – und Sandra blieb in der trügerischen Hoffnung zurück, er würde sie und Nicolas nachkommen lassen. Martin dachte nicht daran. Er richtete sich darauf ein, die Familie niemals wiederzusehen. Manchmal vermisste er den Kleinen, der darunter leiden musste, als Sohn eines Republikflüchtigen zu gelten. Solche Kinder hatten es nicht leicht in der Schule. Dennoch war Martin das neue Leben jeden Preis wert. Wenn man Wiesbaden auch nicht mit Hollywood vergleichen konnte, so gelang ihm und Bernhard trotz allem, wovon sie als Schüler geträumt hatten. Sie verhalfen Filmen auf den Weg ins Licht.
Nur ein Fantast hatte damit rechnen können, dass die Mauer fallen würde. Eines Tages stand Sandra mit dem Kind an der Hand vor der Tür. Wild entschlossen, die verlorenen Ehejahre aufzuholen. In ihrem Kopf schien es keinen Raum zu geben für die Vorstellung, er könnte sie nicht mehr lieben, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Manchmal hasste er sie wegen ihrer Gutgläubigkeit. Zugleich verachtete er sich selbst für seine Lügen. Sein Leben lang war er den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Hatte es allen immer recht machen wollen. Jetzt, so spürte er jeden Tag deutlicher, war er an einen Wendepunkt gelangt. Warum, das wusste er nicht. Vielleicht, lautete einer seiner Erklärungsversuche, kam jeder Mensch mit einem bestimmten Quantum an Geduld auf die Welt, und sein eigener Vorrat war erschöpft. Seltsamerweise machte ihn diese Erkenntnis nicht mutlos. Stattdessen spürte er eine verlockende Aufbruchstimmung, wie damals, als er in den Westen kam. In dieses atemlose Leben, das alles vergessen ließ, was vorher war.
Martins aufkeimender Kampfgeist verschonte selbst Bernhards Lieblingsautoren nicht. Bernhard hatte keinen Schimmer, wie kompromisslos van der Val von Martins Änderungswünschen bombardiert wurde. Zu Recht, selbstverständlich. Bernhards Favorit war es gelungen, Martins durchaus hoch angesetzten Erwartungen an Kitsch und Fantasielosigkeit zu übertreffen. Seine Laune stürzte ins Bodenlose, wenn er allein an die Dialoge dachte. Kein Mensch, ob blaublütig oder nicht, konnte so gestelzt zur Konversation schreiten wie die Schönen und Reichen in van der Vals Traumwelt; sogar für dieses Genre ein Schmalzfass zu viel. Bernhard ließen die Belanglosigkeiten unberührt. Er setzte in Gedanken schon einen Haken hinter die Provision. Seit Tagen stand er in Verhandlungen mit den Redakteuren eines Privatsenders, der dafür berüchtigt war, den Level auf Froschperspektive zu halten. Bei diesem Vergleich fiel ihm die Schlange ein. Dieses widerliche Sich-Winden. Es war abstoßend, und trotzdem hatte er den Blick nicht von dem sterbenden Tier lassen können. Unverhofft stand ihm ein anderes Bild vor Augen, ein anderer Tod. Wie ein Blitz im Gehirn. Das war ihm seit Jahren nicht mehr passiert.
Er trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Das Heck brach aus, der Wagen ließ sich einfangen und rollte unversehrt auf dem Standstreifen aus. Ein Lastwagen donnerte mit wildem Hupen vorüber. Martin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Herz schlug wie bei einer Bergtour.
Langsam fuhr er zum nächsten Parkplatz und
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