Rheingrund
Äskulapnatter, nahm er an. Ungiftig. Kann eine Länge von knapp zwei Metern erreichen, erinnerte er sich. Inga redete von kaum etwas anderem, und der Rheinsteig wurde begleitet von allerlei Informationsschildern über diese Schlangenart, die im Rheingau und einigen Regionen des angrenzenden Untertaunus überlebt hatte. Diese war allerdings das erste Exemplar, das Martin zu Gesicht bekam.
Hoffentlich hatte das Rad keinen Schaden genommen! Er untersuchte gründlich Gestell und Reifen, konnte aber nichts feststellen. Als er weiterfahren wollte, fiel ihm ein, er könnte einige Aufnahmen von dem Tier machen. Mit dem Stock beförderte er die Schlange zurück auf den Asphalt und holte die Kamera aus der Satteltasche. Vielleicht sollte er die Tierleiche besser verstecken, um nicht die Naturschützer aufzuscheuchen. Inga wäre fix und fertig über den Tod eines ihrer Lieblinge. Er hatte nie verstanden, was sie an den Reptilien begeisterte. Das Mädchen war eine fanatische Schlangenschützerin und hatte in Ruths Garten sogar Nester für die Nattern angelegt. Martin störte sich nicht an Schlangen, solange sie ungiftig und harmlos waren, fand das Aufheben darum aber übertrieben. Die Welt wurde durch ein paar betüddelte Schlangen nicht besser. Wenn es keinen Platz mehr für sie gab, starben sie eben aus. Wie Tausende Tierarten zuvor. Das war der Lauf der Welt.
Er sah sich nach allen Seiten um, konnte aber niemanden entdecken, keinen Wanderer, keinen Winzer und erst recht keinen Naturschützer. Umständlich klemmte er das Unfallopfer zwischen zwei Stöcke und ließ es in eine Mauernische rutschen. Anschließend kratzte er mit dem Stockende trockenes Laub und Erde darüber. Er vergewisserte sich noch einmal, dass ihn niemand beobachtet hatte, und schob das Rad auf den Platz hinter dem Turm, den früheren Burghof, wie er vermutete. Der lauschige Fleck war ringsum von Sträuchern umgeben, und auf der freien Fläche wuchsen zwei krumme Eichen. Die Stirnseite hatte man frei gehalten und einen Aussichtspunkt eingerichtet, von dem aus der Betrachter unmittelbar auf das Städtchen Kiedrich hinabblickte. Martin lehnte das Rad gegen die Mauer, nippte an der Wasserflasche und beendete die Pause, als sich ein lautstarker Trupp Spaziergänger näherte. Der weitere Weg führte ihn in den Ort hinunter, von dort bis zum Rhein und über Eltville zurück. Bei der ›Rausch‹ genehmigte er sich auf der Terrasse das ersehnte Bier, klemmte das Rad auf den Gepäckträger und fuhr mit dem Wagen zurück nach Wiesbaden.
Auf der Autobahn war er mit seinen Gedanken bei den Fotos, die er sich beim Bier direkt auf der Kamera angesehen hatte. Er zögerte, sie Inga vorzuführen – trotz des zweifellos dokumentarischen Werts. Womöglich würde sie ihm nicht glauben, dass die Schlange bereits tot war, als er das Tier entdeckte. Gut gelaunt stellte er das Radio lauter und summte die Melodie mit. Ein uralter Song von ›Pink Floyd‹. Er genoss das Gefühl, sich verausgabt zu haben. Er wollte in der Agentur duschen, sich umziehen und anschließend in aller Ruhe die Korrekturen von Bert van der Vals Manuskript durchsehen. Unvermittelt kam ihm in den Sinn, dass Sandra irgendetwas für den Abend geplant hatte. Er war im Bad, als sie am Morgen an die Tür klopfte, um ihn daran zu erinnern, und er gab seine Zustimmung von sich, ohne hingehört zu haben. Ihm wurde klar, dass er sie anrufen musste.
Donnerstags arbeitete sie nur bis mittags. Anschließend kaufte sie für das Wochenende ein und traf sich danach mit ihrer Freundin Ella im ›Maldaner‹. Sie schätzte Wiesbadens ältestes Café und dessen üppige Torten, eine Vorliebe, die man ihr zum Glück nicht ansah. Sandra war in einem Handwerksbetrieb in Sonnenberg angestellt, sie erledigte die Büroarbeiten. Gleich nach der Wende hatte sie dort angefangen und war geblieben. Es schien ihr zu gefallen, vermutete Martin. Zu Hause sprach sie kaum über ihre Arbeit und hasste es, wenn er Manuskripte und Drehbücher mitbrachte. Seit Nicolas in Irland arbeitete und die Eltern selten besuchen konnte, entwickelte sie einen lästigen Tatendrang. Sie ließ kein Stadtfest aus, weder das Theatrium auf der ›Rue‹ noch die Rheingauer Weinwoche auf dem Schlossplatz. Nicht die ödeste Ausstellung war vor ihr sicher, und am liebsten hätte sie sämtliche Aufführungen des Wiesbadener Staatstheaters und der Bühnen in Mainz und Frankfurt verfolgt.
Der Gedanke an das Theater ließ in seinem Gedächtnis etwas anklingen.
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