Rheingrund
Leinenkleid zurecht, das aus den Zeiten mit Arthur stammte und an der Taille hochrutschte. Nun wusste sie wieder, warum sie das Kleid so selten trug. In der Eingangshalle herrschte reger Betrieb. Sie hätte sich gern nach Martin Reber umgeschaut, aber sie war spät dran und stieg sofort die Treppe zur ersten Etage hinauf. Im Gehen tippte ihr jemand auf die Schulter. Norma fuhr herum – und blickte in das gepflegte schmale Gesicht eines älteren Herrn.
Lutz strahlte sie an. »Norma! Was für eine Überraschung. Gut siehst du aus. Das Blau unterstreicht deine Augen.«
Sie hielt ihre Hände im Zaum, die sich eigenmächtig am Stoff zu schaffen machen wollten. »Schmeichler!«
»Du hast gar nicht erzählt, dass du auch zur Premiere kommst.«
»Es war ein spontaner Entschluss!«
Er neigte betrübt den Kopf. »Ich befürchte, du folgst sowieso einer dienstlichen Mission. Und nicht den Reizen der Kunst.«
»Das eine schließt das andere nicht aus.«
Höflich erkundigte sie sich nach seiner Begleiterin. Undine Abendstern, die bekannte Galeristin, galt als engagierte Förderin der modernen Malerei, pflegte ihre Freundschaften zudem in allen Bereichen der Kunst und ließ selten eine Premierenvorstellung aus.
Lutz’ Miene verfinsterte sich. »Undine hütet ihre Gewitterstimmung. Sie sitzt schon auf ihrem Platz. Ich werde erst mit dem letzten Gong hineingehen. Damit gebe ich ihr keine Gelegenheit mehr zum Diskutieren.«
»Himmel, was wirft sie dir dieses Mal vor?«
Er setzte ein harmloses Gesicht auf und hob ratlos die Schultern. »Ich bin völlig schuldlos. In der Galerie ist eine Wasserleitung geplatzt und hat den Fußboden überschwemmt. Und das kurz vor einer Ausstellung!«
»Komm bloß nicht auf die Idee, Undine zu heiraten«, warnte Norma. »Diese Frau ist dein Unglück.«
»Undine ist seit Langem verheiratet. Mit ihrer Galerie«, antwortete Lutz mit einem verschmitzten Lächeln. »Sehen wir uns in der Pause?«
»Besser nicht. Wie schnell wird aus einem Gewitter ein Orkan! Undine kann mich nicht ausstehen.«
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und wünschte ihm einen angenehmen Abend. Die Frau, der sie die Karte zu verdanken hatte, grüßte freundlich, als Norma neben ihr Platz nahm. Die Sitze lagen unmittelbar hinter der Brüstung. Gespanntes Raunen erfüllte die Ränge und mischte sich in die ungeordneten Klänge aus dem Orchestergraben. Die verheißungsvollen Vorboten einer Opernaufführung. Norma freute sich auf die Vorstellung und war Martin Reber dankbar, dass er sie – unwissentlich – hergeführt hatte. Sie sah sich um und entdeckte Lutz auf dem mittleren Rang. Neben ihm thronte Undine, wie immer wunderschön, als hätte sie das Geheimnis der ewigen Jugend entschlüsselt, und schaute ungnädig geradeaus. Lutz hatte Norma entdeckt und winkte verstohlen herüber. Wie so oft fragte sich Norma, warum sich ein so gescheiter Mann wie Lutz von einem Wesen wie Undine gängeln ließ. Schönheit war schließlich nicht alles. Dem Mann in der Reihe dahinter galt ihr Besuch: Martin Reber, begleitet von einer Dame in Blond, mit der er gemeinsam das Programmheft studierte, bis das Gemurmel verstummte. Die Vorstellung begann. Norma genoss die Aufführung rundum und verstand nicht, warum sie so lange darauf verzichtet hatte.
In der Pause ging sie, beschwingt von Mozarts Melodien, hinunter in das Foyer, eine prunkvolle Rundhalle im Rokokostil, umschlossen von drei aufeinandergetürmten Arkadengängen. Goldgelbe Vorhänge umrahmten die Bögen. Vergoldeter Stuck beherrschte Decke und Wände. Betrachtete man den Opernbesuch als Hauptgang, bildete das Zuckerguss-Foyer das süße Dessert. Ein optisches Vergnügen, solange dieser Genuss ein seltener blieb, meinte Norma. Zwei geschwungene Treppen führten auf die mittlere Galerie. Unten herrschte reges Gedränge. Kaum ein Gast, der kein Sektglas in der Hand hielt. Die Besucher standen in Gruppen beieinander, eine größere Ansammlung scharte sich um Undine und Lutz. Norma sah sich nach Martin Reber um. Nach dem zweiten Rundgang stieg sie die Treppe hinauf und wollte sich von oben einen Überblick verschaffen, als sie ihn entdeckte. Reber stand auf der Galerie, den Arm um seine blonde Begleiterin geschlungen, und unterhielt sich mit einer rundlichen Frau. Der Mann an deren Seite starrte sauertöpfisch auf den Boden.
Kaum hatte Reber Norma entdeckt, winkte er sie heran. »Die Frau Privatdetektivin! Auch eine Freundin der Musik?« Er ließ die Frau los. »Sandra, ich habe
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