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Rheingrund

Rheingrund

Titel: Rheingrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Kronenberg
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in duftiger Pracht. Der Ort lag eingebettet in ein enges Tal, und bald führte die Straße steil bergab. Martin ließ das Rad laufen in dem Wissen, dass es auf der anderen Seite noch steiler wieder hinaufgehen würde. Zu Füßen der Burgruine, deren Turm mit massiger Wucht aus einem Felsblock emporwuchs, traf seine Strecke auf den Rheinsteig, der durch Frauenstein hindurch und auf einem Pfad in nordöstlicher Richtung zum Wald hinaufführte.
    Er geriet ins Schwitzen, während er sich die Steigung aufwärts kämpfte, und erschrak über den Gedanken, was aus ihm hätte werden können, wenn er in seine Lebensplanung ebenso viel Ehrgeiz gesteckt hätte wie in die Bewältigung der Radtouren. Hinter der Kuppe ging es eben weiter und bald darauf leicht bergab. Er stellte sich auf die Pedalen wie ein Kind, das Rad fahren lernt, und folgte dem Pfad, der sich an einen Hang schmiegte, der sogar als Weinberg zu steil war. Felsbrocken ragten aus vergilbten Grashorsten hervor, umrankt von Brombeerhecken.
    Nur nicht abstürzen, kam ihm in den Sinn, doch den Fahrtwind auf der Stirn und die Geschwindigkeit mit dem ganzen Körper zu spüren, das war das wahre Leben. Er beschleunigte wagemutig. Das Adrenalin jagte seinen Herzschlag voran. Ein Rascheln im Laub ließ ihn in die Bremsen greifen. Bloß nicht wieder eine Schlange! Zu spät. Er brachte das Rad nicht mehr zum Stehen und raste in das Seil hinein, das unvermittelt den Weg versperrte. Der Schlag schleuderte ihn vom Rad, und Martin stürzte kopfüber den Hang hinunter. Die Welt drehte sich um ihn herum. Er rang nach Luft. Das Letzte, das er wahrnahm, war der Felsbrocken vor seinen Augen. Ein grausamer Schmerz. Dann war nichts mehr.

14
    Norma verabschiedete sich von Ruth und verstaute den Flaschenkarton hinter dem Beifahrersitz. Begleitet von Weinbergen und blühenden Kirschbäumen fuhr sie nach Frauenstein hinein und nahm hinter dem schmucken Ort die Landstraße in Richtung Georgenborn. Der HR sendete die 10-Uhr-Nachrichten. Norma hörte kaum hin und betrachtete den vorbeiziehenden Wald. Zwischen den Buchenstämmen hielt sich der Dunst; die Sonnenstrahlen zerschnitten ihn in den glitzernden Fächer einer Märchenwelt. Voller Vorfreude auf die Wanderung lenkte sie den Wagen auf einen menschenleeren Parkplatz, der nach einer Besonderheit dieses Waldstücks benannt war, dem Monstranzenbaum, und stellte den Polo neben einem Kombi ab. Das Berliner Kennzeichen fiel ihr auf. Neugierig spähte sie in den Wagen. Auf dem Rücksitz entdeckte sie mehrere Landkarten für den Rheingau und Taunus, und daneben eine blaue Wachsjacke, wie Lambert sie auf dem Neroberg getragen hatte. Im Kofferraum lag auf einer Metallkiste, in ungleiche Schlingen gewunden, ein rotes Kletterseil. Norma ging um den Kombi herum und legte die Hand auf die Motorhaube. Das Blech fühlte sich kalt an.
    Suchte Kai Kristian Lambert in diesem Wald nach Motiven für seine Dokumentation? Sie dachte an seinen Angriff auf Martin Reber und den Hass, der sich darin offenbart hatte, und verspürte wenig Lust, ihm hier allein zu begegnen. Andererseits sah sie nicht ein, warum sie seinetwegen ihre Pläne ändern und auf die Wanderung verzichten sollte, und vertraute darauf, dass er ihr nicht über den Weg laufen würde. Das Waldstück war groß genug für beide.
    Zuversichtlich nahm sie den Rucksack aus dem Polo und schlenderte zu dem Baumskelett hinüber, das sich in majestätischem Vergehen in der Mitte des Platzes behauptete. Alles Leben schien aus der uralten Eiche gewichen, aber sie hielt sich aufrecht und reckte unverzagt die Aststümpfe in den Himmel. Im Manuskript hatte Inken dem Baum einen längeren Abschnitt gewidmet. Der Sage nach vergrub eine Äbtissin des Klosters Tiefenthal eine goldene Monstranz, um sie vor Plünderern zu bewahren, und pflanzte eine junge Eiche darüber. Viele Jahre später wollte sie den Kirchenschatz zurückholen, fand die Stelle aber erst nach langer Suche wieder. Von den Anstrengungen erschöpft, starb die Äbtissin unter der Eiche, deren Äste daraufhin in der Gestalt der Monstranz wuchsen.
    Inken hatte die Legende mit geschichtlichen Hintergründen ausgeschmückt, über die Streckenbeschreibung aber nur wenige Worte verloren. Normas Erkundigungen sollten die vagen Andeutungen mit Fakten auffüllen. Auf einem Wegweiser prangte das Rheinsteigzeichen. Sie schulterte den Rucksack und folgte einem Weg, der in Sichtweite der Straße in den Wald hineinführte. Hoch in den Bäumen beschwerte sich ein

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