Rheingrund
Eichelhäher über die Störung, und irgendwo hämmerte ein Specht emsig gegen trockenes Holz. Norma genoss die klare Luft und den federnden Waldboden unter den Sohlen. Bald geriet ihr erstes Ziel in Sicht. Zwischen den Bäumen erspähte sie einen kompakten Felsblock und ein Stück weiter eine lang gestreckte Felsformation, die fast senkrecht aus dem Erdreich ragte. Moose und Flechten färbten den Stein grün, als wollten sie seinen Namen verspotten. Der ›Graue Stein‹, ein Band aus Quarz, erreichte eine Höhe bis zu zehn Metern, schrieb Inken und vergaß nicht den Hinweis, dass die Wand im bisweilen überhängenden Fels an die 20 Kletterrouten bot und bei Klettersportlern aus nah und fern sehr beliebt war.
An diesem Morgen lag der Felsen in ungestörter Ruhe. Neugierig folgte sie dem Trampelpfad zu einem Einschnitt hinauf, stieg oben über die Steine hinweg und gelangte mit wenigen Schritten bergab hinter das Felsenband. Der Bereich lag im Schatten, und so bemerkte sie zu spät den Mann, der dort an einem Baumstamm lehnte. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt, aber er hatte sie bereits erkannt und begrüßte sie mit Namen. Forscher als ihr zumute war, trat sie auf Lambert zu. Ganz offensichtlich war die vergangene Nacht für ihn alles andere als erholsam gewesen. Doch dem Schlafmangel allein war die ungesunde Gesichtsfarbe nicht anzulasten. Eher dem einen oder anderen Gläschen, wobei Norma nicht an Wasser dachte. Das Sonnenlicht streifte seine Wange und fing sich in den zerzausten Haaren. Er blinzelte gegen das Licht. Die Sonnenbrille klemmte mit einem Bügel an der Weste. Zu seinen Füßen stand die Kameratasche, die er auch auf dem Neroberg dabeigehabt hatte.
Überraschend freimütig sprach er den Vorfall des vergangenen Abends an. »Es tut mir leid für die Leute, denen ich die Vorstellung verdorben habe.«
Zwei junge Leute trugen ihre Mountainbikes über den Felseneinschnitt hinüber und lehnten die Räder an die Bäume.
»Meinen Sohn Lenny kennen Sie bereits«, sagte Lambert und stellte ihr den anderen Jungen namens Paul vor, einen Klettersportler aus Wiesbaden. Er wolle einige Kletterszenen filmen, erklärte er und wandte sich an seinen Sohn. »Hast du das Bergseil nicht mitgebracht? Ich wollte dich heute Morgen nicht wecken, sonst hätte ich es selbst aus deinem Zimmer geholt. Du hättest es im Wagen lassen sollen!«
Lenny schaute seinen Vater verblüfft an. »Ich habe das Seil nicht aus dem Wagen genommen. Es liegt dort wie immer an seinem Platz.«
»Das Seil fehlt im Auto«, beharrte Lambert.
»Ganz bestimmt nicht!«, widersprach Lenny verwundert. »Frag Paul! Wir haben das Kletterseil eben erst im Kombi liegen gesehen und hätten es mitgebracht, wenn mir nicht der Autoschlüssel verloren gegangen wäre.«
»Nicht schon wieder, Lenny! Pass besser auf deine Sachen auf!«
Lenny blickte sich zum Felsen um und nahm die Wand in Augenschein. »Kann ich nicht frei klettern? Ich bin schließlich kein Anfänger. Und Paul ebenso wenig.«
»Vielleicht filmen wir nachher ohne Sicherung, das sehen wir dann. Jetzt sieh zu, wie du das Seil ranschaffst.«
Lenny grinste und streckte die Hand aus. »Kein Problem! Gib mir deinen Schlüssel!«
Er sprang aufs Rad und fuhr quer durch den Wald davon. Paul hatte seit geraumer Weile die Wand im Blick und begann, ein Stück abseits den Felsen zu erklimmen.
Lambert strich sich über das Gesicht und lächelte entschuldigend. »Ich war gestern Abend in schlechter Stimmung. Eigentlich trinke ich nicht mehr. Irgendwann nach dem Tod meiner Frau bin ich darüber weggekommen.«
Silvia, die Ehefrau, die in Lamberts Lebenslauf nicht mehr erwähnt wurde. Norma erinnerte sich an den Text im Internet. »Woran starb Ihre Frau?«
Bereitwillig erzählte er von der kurzen kostbaren Zeitspanne zwischen Diagnose und Tod und wechselte das Thema. »Haben Sie schon etwas über Marikas Verbleib herausgefunden?«
»Es geht voran«, gab Norma zur Antwort und stützte den Wanderschuh gegen einen Steinbrocken. »Auf dem Neroberg erwähnten Sie, die Familie sei für Bernhard das größte Glück gewesen. Ist Ihnen irgendwann eine Veränderung aufgefallen?«
»Sie meinen, ob Bernhard sich Zweifel anmerken ließ, er sei Ingas Vater? Im Gegenteil. Er vergötterte die Kleine.«
»Und wie verhielt sich Martin Reber?«
Lambert strich sich über die hohe Stirn. »Sie vermuten, Martin könnte Ingas Vater sein?«
»Wäre es denkbar? Ist er der Typ, der einen Freund mit dessen Ehefrau
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