Rheingrund
nicht an der Zeit, endlich alle Lügen hinter sich zu lassen? Den ersten Schritt hatte er gestern Abend bereits getan und staunte, wie er den Mut dazu aufbringen konnte. Vor aller Augen als Kuckucksvater dazustehen, würde Bernhards Zorn vom Köcheln zum Überschäumen anheizen. Doch was sollte Bernhard dagegen tun? Martin hatte ihn in der Hand.
Die Ampel am Dürerplatz zeigte Rot. Er zog die Bremse und hielt neben der Autokolonne. Bei Licht betrachtet, war die Angelegenheit nicht ganz so simpel. Bernhard konnte einen Trumpf ins Spiel bringen. Aussage stand gegen Aussage, falls Martin zur Polizei ging. Bernhard würde keine Chance verstreichen lassen und ihm die Tat in die Schuhe schieben. Und Martin müsste sich dem Vorwurf stellen, warum er 15 Jahre geschwiegen hatte, wenn sein Gewissen angeblich so rein war.
Die Ampel sprang auf Grün. Der Golf an seiner Seite heulte auf und verstummte. Martin überholte den streikenden Wagen und überquerte die Kreuzung mit dynamischem Antritt. Für Ruth käme die verheimlichte Vaterschaft einem Verrat gleich. An ihrer Freundschaft lag ihm sehr. Ruth war ihm Ersatzmutter und Freundin zugleich, seit er als junger Mann in den Westen gekommen war. Den Kontakt zu den Eltern hatte er durch die Flucht verloren und auch nach der Wende nicht wieder aufgenommen.
Und Sandra? Wenn er sich zu seiner Tochter bekannte, konnte dies das Ende ihres ehelichen Arrangements bedeuten. Wie oft hatte er sich nichts anderes gewünscht. Aber nun, da es ernst werden könnte, scheute er die Konsequenzen. In seinem Eheleben ließ es sich, von einigen Unannehmlichkeiten abgesehen, ebenso beschaulich aushalten wie in der Agentur. Er wollte weder den Verlust des einen wie des anderen riskieren.
Gab es noch etwas zu retten? Inga ist kein Mädchen, das ihre Sorgen herausposaunt, überlegte er und umfuhr mit sportlichem Schlenker ein Müllfahrzeug. Allerdings brauchte selbst ein so verschlossenes Mädchen in der Not jemanden zum Reden, und zu ihm konnte sie nicht kommen. Angenommen, sie wollte Ruth vorerst nicht damit belasten, weil sie wusste, wie sehr diese ihren Freund Martin schätzte und wie tief sie die Enttäuschung verletzen würde, zu wem sollte Inga mit ihrem Kummer gehen? Ihm fiel nur eine Person ein: Ingas neue Freundin. Norma Tann.
Diese unerschrockene Schnüfflerin steckte ihre Nase reichlich tief in die Familienangelegenheiten.
Er fasste in die Bremse, hielt auf dem Gehsteig und nahm das Handy aus der Satteltasche.
Inga meldete sich mit einem abweisenden: »Ja?«
»Wo bist du?«, fragte er erleichtert, hatte er doch befürchtet, sie würde das Gespräch umgehend wegdrücken.
»Gleich zu Hause. Ich bin eben ausgestiegen.«
Ihr Atem verriet, dass sie zu Fuß unterwegs war. Von der Haltestelle führte eine Treppe hinauf zum Weingut, und Inga ging immer schnell.
»Inga! Bevor du irgendetwas unternimmst, lass uns reden!«
Sie ging langsamer oder war stehen geblieben. Der Atem war nicht mehr zu hören.
»Lass mich in Ruhe! Ich will allein sein.«
»Bitte, Inga! Ich muss dich sehen!«
Schließlich lenkte sie ein. Es klang, als putzte sie sich die Nase, als sie sagte: »Also gut. Im Gartenhaus.«
Er zögerte.
Sie wusste, dass er die Hütte nicht mochte. »Dort oder nirgends. Heute Mittag um 12 Uhr.«
Die Verbindung brach ab. Als er es erneut versuchte, hatte sie auf die Mailbox umgeschaltet.
Die Radtour war die beste Ablenkung für die kommenden Stunden. Als er das Schloss Freudenberg erreichte, fiel ihm ein, dass er die Wasserflasche im Wagen vergessen hatte. Nicht weiter schlimm, im Rheingau gab es genügend Möglichkeiten zum Einkehren. Außerdem hatte er nach dem verhängnisvollen Geständnis nicht mehr daran gedacht, das Passwort zu ändern. Eh egal, tröstete er sich, nachdem Bernhard die aktuelle Datenkopie an sich genommen und womöglich schon einen Blick in die privaten Dateiordner geworfen hatte. Was sollte er mit den Trainingsplänen und Fotos Böses anrichten? Außerdem würde er bei dem sonnigen Wetter stundenlang auf dem Golfplatz bleiben und an seinen Abschlägen feilen. Der Gute entwickelte für seinen Sport eine beachtliche Ausdauer. Anschließend spazierte er womöglich über den Rheinsteig und fahndete nach Besonderheiten für den Wanderführer. Mit bissigem Vergnügen malte Martin sich aus, wie er ungebremst auf Bernhard zuhielt und ihn einen Abhang hinaufjagte.
Die Kirschblüte hatte in diesem Jahr frühzeitig begonnen, und die Obstbäume rund um Frauenstein standen
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