Rheingrund
stand allerdings nicht in dem Ruf, seine Zusagen pünktlich einzuhalten. Ungeduldig fasste Norma den Entschluss, bis 12 Uhr zu warten und dann Wolfert anzurufen, und wandte sich wieder den Unterlagen über Marika zu, die – als Kopien und mit ihren Anmerkungen versehen – auf dem Schreibtisch gestapelt vor ihr lagen. Innerhalb der vergangenen zwei Wochen war sie die Aufzeichnungen der Kollegen mehrfach durchgegangen und wollte trotzdem die Hoffnung nicht aufgeben, doch noch auf den entscheidenden Hinweis zu stoßen. Der Kater leistete ihr Gesellschaft und umfasste ihren Arm spielerisch mit den Pranken, während sie sein pelziges Kinn kraulte. Ihre Gedanken kreisten um den gestrigen Tag und die Suchaktion, die ihrem Gedächtnis ein weiteres beklemmendes Bild hinzugefügt hatte. Die Wiesbadener Zeitungen hatten eine Meldung über das Auffinden des Vermissten gebracht, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Auch das Radio ließ nur Andeutungen verlauten.
Polizeihund Don war seiner Aufgabe mit Feuereifer nachgegangen. Der Vermisste lag unterhalb der Stelle, an der die vermeintliche Falle entdeckt wurde. Helfer trugen den Toten nach oben: ein durchnässter Körper, Rücken und Beine braun von Erde, die nackten Arme und das Gesicht vom Sturz in die Dornen gezeichnet. Auf der Stirn klaffte eine Wunde, die jeden medizinischen Laien das Schlimmste befürchten ließe.
»Da hätte auch ein Helm nichts geholfen«, murmelte Wolfert, der zwischen Norma und Milano stand und gemeinsam mit ihnen die Bergung verfolgte.
Milano strich die Schuhe an einem Grasbüschel ab. »Reber hat sich beim Sturz den Schädel aufgeschlagen. Mit dem Loch im Kopf muss er auf der Stelle tot gewesen sein.«
Norma trat zurück, um zwei schwarz gekleidete Männer vorbeizulassen, die einen Sarg herantrugen. »Oder der Fallensteller ist seinem Opfer nachgeklettert und hat die Tat dort unten vollendet.«
Milano unterbrach seine vergeblichen Bemühungen und blickte missmutig auf die Schuhe, in deren Lehmkrusten nun nasse gelbe Grashalme klebten. »Du bist gar nicht hier, Norma!«
Ein Mann kam den Abhang hinaufgeklettert und hielt dabei eine Plastiktüte in der ausgestreckten Hand. Der weiße Schutzanzug war auf Knien und Ellenbogen von Erde beschmutzt und zeugte vom körperlichen Einsatz seines Trägers.
Wolfert nahm den Inhalt der Tüte in Augenschein. »Kopfhörer und Kabel. Und das Gerät dazu?«
»Ein MP3-Player vermutlich«, antwortete der junge Kriminaltechniker, der Norma unbekannt war. »Das Gerät ist nicht aufzufinden.«
»Dann schafft es heran!«, fauchte Milano.
»Reber hatte so einen roten Stick«, sagte Norma und fing sich einen finsteren Milanoblick ein.
»Wolltest du nicht gehen, Norma?«
»Bin schon unterwegs. Soll ich vielleicht Ruth und Inga informieren?« Die beiden Männer waren einverstanden, dass sie ihnen die ungeliebte Aufgabe abnehmen wollte. »Dafür haltet ihr mich auf dem Laufenden? Rufst du mich bis morgen Mittag an, Luigi?«
Seine geknurrte Antwort hatte sie als Zustimmung aufgefasst, aber die Telefone taten keinen Mucks.
Stattdessen klopfte jemand an die Bürotür. Ein Mann Anfang 40, schlank, in Jeans und Pullover, mit akkuratem Kurzhaarschnitt und aufgewecktem Blick, mit dem er unter der Hand hindurch in den Raum äugte. Typ betrogener Ehemann, urteilte Norma spontan und glaubte, ihm einen enttäuschten Zug anzusehen. Einer, der seiner Frau auf die Schliche kommen wollte. Kein Auftrag nach ihrem Geschmack.
Der Besucher hatte sie entdeckt und winkte. Norma befreite sich mit sanftem Druck aus Leopolds Tatzen und öffnete die Tür.
Sein Lächeln wirkte zurückhaltend. »Frau Tann? Mein Name ist Eiko Ehlers.« Höflich bat er um ein kurzes Gespräch.
Der Kater war auf den Besucherstuhl gesprungen und hinterließ einen Flaum blaugrauer Haare, als Norma ihn herunterhob.
Sie zog den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch hervor. »Nehmen Sie besser den!«
Ehlers zögerte einen Augenblick, als traue er dem Stuhl nicht, bevor er sich setzte. Er bückte sich zum Kater hinunter und strich ihm sanft über den Rücken. Vielleicht wollte er einen krankfeiernden Angestellten überführen? Allerdings sah er nicht wie ein Geschäftsmann aus. Eher wie ein Arzt, überlegte Norma. Oder war er Journalist?
Leopold schien angetan und drückte sich schnurrend gegen die Männerwaden.
»Prächtiger Kerl«, lobte Ehlers. »Ich mag die Kartäuser sehr.«
Ein Tierarzt womöglich, überlegte sie.
»Poldi ist hier der Hausherr«, erklärte
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