Rheingrund
und nahm wieder Platz.
»Wir sprechen uns heute Abend!« Milano knallte den Hörer auf. »Stümper!«
Mit einem erschöpften Schnaufen ließ er sich hinter seinem Schreibtisch nieder, der im Gegensatz zu Wolferts aufgeräumtem Arbeitsplatz mit Zetteln, Akten und aufgerissenen Verpackungen, vorzugsweise von Süßigkeiten, übersät war.
Aus Höflichkeit nahm Norma einen zweiten Schluck und fragte: »Was hat die Obduktion ergeben?«
Milano fingerte in einer Schublade herum und zog eine unversehrte Papierhülle hervor. »Martin Reber hat sich bei dem Sturz eine Reihe von Verletzungen zugezogen, die für verunglückte Mountainbiker typisch sind, sagt der Doktor. Unter anderem einen Wirbelbruch mit Querschnittslähmung.«
Er riss die Verpackung mit den Zähnen auf. Der Schokoriegel verschwand in seinem Mund.
Sie dachte an das hässliche Loch in Rebers Stirn. »Was wisst ihr über die Kopfwunde?«
Milano kaute und gab dem Kollegen ein Zeichen.
»Die Verletzung der Stirn war verantwortlich für den Exitus«, antwortete Wolfert. »So viel steht fest. Aber …« Er senkte die Stimme: »Die Kopfwunde hat mit dem Sturz nichts zu tun. Wie hast du gestern selbst gesagt, Norma? Wer auch immer die Falle gebaut hat: Er könnte herabgeklettert sein und Reber den tödlichen Schlag verpasst haben. Es sieht so aus, als hättest du mal wieder den richtigen Riecher gehabt. Allerdings hat sich der Täter Zeit gelassen.«
Norma schlug die Beine übereinander. »Zeit gelassen? Was soll das heißen?«
Wolfert rieb sich das spitze Kinn. »Der Sturz geschah am Freitagmorgen um exakt 9.47 Uhr. Rebers Uhr überstand den Aufprall nicht. Er selbst zunächst schon.«
Milano warf einen Blick in die leere Papierhülle und ließ sie achtlos auf die Tischplatte fallen. »Den tödlichen Hieb gegen den Kopf bekam er wesentlich später verpasst.«
Ihre Zehen begannen angestrengt zu wippen. »Wie viel später?«
Milano antwortete: »Bis zu 48 Stunden. Reber starb irgendwann zwischen Samstagnacht und Sonntagvormittag.«
»Soll das heißen, Martin Reber lag zwei Tage lang mit einer Querschnittslähmung im Gebüsch und wurde dann erschlagen?«
Wolfert warf ihr durch die dicken Brillengläser hindurch einen langen Blick zu. »Davon ist auszugehen. Eklige Geschichte.«
»Damit haben wir ein Tötungsdelikt«, fügte Milano hinzu, während seine dicken Fingerspitzen in einem Trommelsolo über die Schreibtischplatte jagten, und erklärte, dass er und Kollege Wolfert der umgehend gebildeten Mordkommission zugeteilt wären.
Norma bemerkte, dass sie noch immer den Kaffeebecher in der Hand hielt, und stellte ihn zwischen einer angebrochenen Bonbontüte und den Rest einer Schokoladentafel ab. Die nächste Frage fiel ihr schwer: »War Reber bei Bewusstsein, als man ihm den letzten Schlag verpasste?«
»Davon ist auszugehen«, wiederholte Wolfert tonlos.
Das Doppelkinn des Kollegen geriet in Schwingungen, als er nickend zustimmte, ohne die Trommelei einzustellen.
Sie fragte nach Sandra. »Wie kommt Rebers Frau damit klar?«
»Wir lassen sie vorerst in dem Glauben, dass ihr Mann auf der Stelle tot war«, erklärte Milano. »Die Wahrheit wird sie früh genug erfahren. Außerdem kommt das den Ermittlungen zugute. Ich erwarte, dass auch du dich daran hältst, Norma.«
»Keine Frage, Luigi!«
»Sandra Reber erwartet den Sohn aus Irland«, sagte Wolfert. »Heute ist eine Freundin bei ihr.«
Vielleicht die Begleiterin zur Opernpremiere, dachte Norma. Wenigstens war Sandra in der Situation nicht allein. Ob Ruth und Inga einander beistehen konnten? Sie war nach dem Ende der Suchaktion ins Weingut gefahren und hatte dort beide angetroffen. Ruth nahm die Nachricht von Rebers Tod gefasst entgegen, setzte sich wortlos und schien innerlich zu versteinern. Inga brach in Tränen aus, schrie und schwieg und weinte wieder, bis sie alle Kraft verlor und an der Seite der Großmutter erstarrte. Als Norma nach zwei Stunden das Haus verließ, erschien ihr die Frühlingssonne wärmer denn je. Zumindest musste sie beiden Frauen vorerst nicht erklären, auf welch grausame Weise Martin Reber zu Tode gekommen war.
Leise bekannte sie: »Ich bin am Samstagvormittag an der Absturzstelle vorbeigekommen. Er könnte noch leben, wenn ich gehandelt hätte.«
»Woher solltest du wissen, dass er dort unten lag?«, wandte Wolfert ein. »Mach dir deswegen keine Vorwürfe.«
Sie erzählte von der Begegnung mit Ruth. »Ich war so ignorant! Der Hund hing an Reber, wie ich selbst
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