Rheingrund
einflussreiche Wiesbadener Juristenfamilie eingeheiratet, fuhr sie fort. Einigen Familienmitgliedern war Norma bei Einladungen in der Villa Tann begegnet. In der Tat konnte sie sich angenehmere Widersacher vorstellen.
Sie verabschiedete sich von Irene und verließ das Gebäude. Draußen kamen ihr ein blonder Hüne und eine zierliche Frau entgegen.
Das Mädchen lächelte unsicher. »Max soll seine Aussage wiederholen. Mich will man auch befragen. Hast du schon das Ergebnis vom Gentest?«
Norma bat um Geduld. »Wie geht es dir, Inga?«
»Ich komme klar!« Sie schenkte Max einen warmen Blick, woraufhin er nach ihrer Hand griff.
»Und Ruth?«
»Sie sagt nichts und stiert vor sich hin, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Aber sie sorgt sich um mich. Das lenkt sie ab. Gestern Abend war Sandra bei ihr. Sie wollte nicht allein sein. Früher konnten sich beide nicht besonders gut leiden. Martins Tod hat alles verändert.«
»Weiß Sandra von dem Verhältnis zwischen Martin und deiner Mutter?«
Ein energisches Kopfschütteln. »Sie hat keine Ahnung, dass Martin vielleicht mein Vater war. Sie ist unverändert nett zu mir. Das wäre sie sonst wohl kaum.«
Es sei denn, überlegte Norma, Sandra spielt die ahnungslose Ehefrau, weil sie sich der Wahrheit nicht stellen wollte. Oder um die Wahrheit zu verheimlichen. Eifersucht als Mordmotiv? Ein Motiv, so alt wie die Menschheit. Fing sie an, überall Gespenster zu sehen?
Max legte den Arm um Ingas schmächtige Schultern.
» Komm jetzt! Es wird Zeit«, drängte er, als wollte er die peinliche Aussage rasch hinter sich bringen.
Auf der Rückfahrt hielt Norma an einem Lebensmittelmarkt, um den Vorrat an Poldis Lieblingsfutter aufzustocken, und machte bei der Gelegenheit weitere Besorgungen. Als sie die Lebensmittel in den Kofferraum packte, wurde ihr klar, warum man nicht hungrig einkaufen sollte. Sie hatte dem frischen Gemüse nicht widerstehen können und großzügig eingepackt. Zurück in der Wohnung, begann sie umgehend mit der Reduzierung. Sie zerschnitt Zucchini, Brokkoli und Möhren, dünstete das Gemüse im Wok und richtete es mit einer würzigen Soße an. Beim Essen kreisten ihre Gedanken um den Besuch am Morgen. Der Anwalt hatte böse Erinnerungen wachgerüttelt. Ins Höllenfeuer mit dem Kerl, dachte sie und träufelte einen Löffel Chilisoße auf den Teller.
Hatte Martin Reber, wie sie selbst, dem falschen Freund vertraut?, überlegte sie, während sie das Geschirr in das Spülbecken räumte. Auf welchen Feind war Marika hereingefallen, bis sie die Gutgläubigkeit mit dem Leben bezahlte? Es musste einen Zusammenhang geben! Beim Abtrocknen ließ Norma ihrer Fantasie freien Lauf und verbannte jeden Gedanken an den Prozess. Der Schreibtisch konnte warten. Sie nahm den Wagen und fuhr hinaus in den Rheingau.
Als hätte die Natur über Nacht eine Extraschicht eingelegt, leuchteten die Wiesen in einem überirdischen Grün. Die blühenden Obstbäume strahlten mit dem postkartenblauen Himmel um die Wette. Bald kam das Weingut in Sicht, von dem der Frühling auf seine Weise Besitz ergriffen hatte und die Hausfront hinter den sprießenden Ranken versteckte. Ruth öffnete auf das Klingeln. Sie trug dunkle Sportkleidung, die sie verletzlich und niedergeschlagen wirken ließ. Blass und mit Schatten unter den Augen, schien sie den 70 Lebensjahren näher denn je.
Ihr Blick verriet, dass Norma nicht willkommen war. »Ich bin mitten in einer Einzelstunde.«
Norma entschuldigte sich. »Ich wollte nicht stören. Ehrlich gesagt, ich hatte nicht erwartet, dass Sie heute arbeiten.«
»Wie sollte ich sonst aushalten, was sich in meinem Kopf abspielt?«
»Ich dachte, ich könnte Ihnen irgendwie beistehen. Martins Tod …«
Ruth schnitt ihr das Wort ab. »Danke für das Angebot. Ich komme zurecht. Was wollen Sie? Meine Schülerin wartet.«
»Eine Frage, bitte. Darf ich mir das Gartenhaus ansehen? Marika hat sich gern dort aufgehalten.«
»Was soll das bringen? Nach all der Zeit?«
Norma fragte verwundert: »Soll ich überhaupt weiterhin nach Ihrer Tochter suchen?«
Ruth deutete ein Lächeln an. »Warum sollte ich den Auftrag zurückziehen? Schauen Sie sich meinetwegen im Garten um, wenn Ihnen das hilfreich erscheint. Keine Sorge wegen Arlo.«
Der Labrador begrüßte Norma mit stürmischer Unbekümmertheit und legte ihr einen Ball vor die Füße. Sie tat ihm den Gefallen und trat das Spielzeug auf den Rasen hinaus. Arlo stürmte mit schlackernden Ohren hinterher. Sie ging an der
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