Rhosmari - Retterin der Feen
Sie duckte sich hinter einen Felsblock, hielt die Hände über den Kopf und wartete darauf, bei lebendigem Leibe begraben zu werden. Doch der größte Teil der Lawine traf neben ihr auf dem Boden auf und nach einiger Zeit kehrte wieder Ruhe ein. Vom oberen Rand der Küste kamen Rufe. Die anderen Kinder des Rhys waren herbeigeeilt, um nachzusehen, was passiert war. Benommen stand Rhosmari auf und sah sich suchend nach ihrem Vater um.
»Und da lag er«, schloss sie. »Auf den Steinen. Das Wasser überspülte ihn bereits. Er war tot.«
Sie schwiegen beide lange. Dann sagte Timothy: »Das tut mir leid.«
Vier leise Worte, mehr nicht – doch reichten sie vollkommen aus. Zumindest wusste Rhosmari jetzt, dass er sie verstand und nicht verachtete.
»Timothy«, flüsterte sie, »ich habe solche Angst davor, was die Kaiserin mir antun wird – und zu was sie mich zwingt, wenn sie mich wieder einfängt.«
»Sie kriegt dich nicht«, sagte Timothy und legte seine Hand auf ihre Hände. »Rob spielt nur auf Zeit – er denkt nicht daran, dich auszuliefern. Wir werden weiterkämpfen, solange wir können.«
»Und dann wird Peri sterben und zuletzt bekommt die Kaiserin mich sowieso.« Rhosmari rieb sich die Augen. »Es hat keinen Zweck, Timothy. Selbst wenn ich« – ihre Stimme bebte – »mich umbringen würde, könnte das dich und die anderen nicht schützen. Die einzige Möglichkeit, die Kämpfe zumindest für eine Zeit lang zu beenden, ist, ihr zu geben, was sie will.«
Timothy starrte Rhosmari an. Dann sagte er heiser: »Nein.«
»Aber es ist unsere einzige Chance«, beharrte Rhosmari. Sie wusste nicht mehr, ob sie mit Timothy sprach oder nur mit sich selber. »Wenn ich mich der Kaiserin ergebe, verschont sie die Eiche vielleicht. Denn wenn sie die Grünen Inseln erobern will, braucht sie dazu jeden Mann. Sie wird also mit mir und ihrer gesamten Streitmacht dorthin aufbrechen. Und sobald sie weg ist, können Rob und seine Leute das Haus betreten und Peri heilen.«
»Rhosmari …«
»Vielleicht fällt mir unterwegs sogar eine Möglichkeit ein, wie ich die Kinder des Rhys warnen kann.« Rhosmari senkte den Blick auf ihre verschränkten Hände. »Ich weiß, es ist unwahrscheinlich und wird mir kaum gelingen. Aber ich kann nicht tatenlos zusehen, wie ihr meinetwegen sterben müsst.«
Timothy schnaubte. »Und du hast Peri für verrückt gehalten, weil sie ihren Namen Paul anvertraut hat«, sagte er. »Dann ist es doch erst recht verrückt, ihn jemandem zu geben, der dich versklaven will.«
»Aber ich will ihn ja gar nicht …« Doch da hatte Rhosmari eine Idee. Eine verwegene Hoffnung stieg in ihr auf. »Und … wenn ich ihn nun doch weggeben würde?«
»Der Kaiserin? Was sollte das nützen?«
»Nein, nicht ihr.« Rhosmari hatte sich aufgesetzt und packte Timothy am Arm. »Jemandem von uns, der nicht will, dass die Kaiserin über mich gebietet. Könnte sie mir den Namen immer noch wegnehmen, wenn jemand anders ihn bereits wüsste?«
»Hm … keine Ahnung«, sagte Timothy. »Ich weiß nicht einmal, ob das funktioniert, wenn du deinen Namen gar nicht wirklich weggeben willst, wie das bei Peri und Heide der Fall war. Denn du willst es ja nicht, richtig?«
Rhosmari wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Bei dem Gedanken, sie könnte ihren Namen jemandem mitteilen, wurde ihr immer noch flau im Magen. Doch mischte sich in ihre Angst diesmal noch etwas anderes, eine Art freudiger Erregung.
»Aber wenn es funktionieren würde? Und wenn wir die anderen Feen davon überzeugen könnten, es auch zu tun? Könnten wir damit am Ende die Kaiserin auch ohne den Namensstein besiegen?«
Timothy begriff, worauf sie hinauswollte, und seine Miene hellte sich auf. »Du meinst, wenn du schon nicht den Pfeil abschießen kannst, der Jasmin aufhält, könntest du vielleicht selber ein Pfeil sein. Nicht ein Pfeil, der tötet, sondern einer, der den Weg weist.«
»Genau!« Doch dann fiel Rhosmari wieder das ungeheure Risiko ein, das sie einging, und der Mut verließ sie wieder. »Ich weiß nur nicht, ob ich mich dazu überwinden kann.«
»Aber wenn du die Wahl hast, entweder deinen Namen jemandem zu geben, dem du vertraust, oder ihn an jemanden zu verlieren, dem du nicht traust …«
»Ich weiß.« Rhosmari seufzte. »Jemandem eine solche Macht über sich einzuräumen – das ist furchterregend, Timothy. Du kannst dir das nicht vorstellen.«
»Sich jemandem auf Gedeih und Verderb auszuliefern? Du hast recht. Das kann ich nicht.
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