Rhosmari - Retterin der Feen
besten rufe ich Sarah und wir suchen dir ein Zimmer.«
Rhosmari wäre am liebsten in ihrem Zimmer geblieben, als die Glocke zum Abendessen läutete, aber sie hatte keine Wahl. Sie hatte den ganzen Nachmittag über versucht, mit einem Sprung ins Dorf zurückzukehren oder aus dem Fenster zu klettern, doch ohne Erfolg. Und wenn die Kaiserin sie mit ihrem Namen zum Abendessen rufen musste, war die Demütigung nur noch schlimmer.
Sie war die Treppe zur Hälfte hinuntergestiegen, da blickte sie einem Instinkt folgend unwillkürlich nach links. Dort hing das Porträt Philip Waverleys, das ihr schon zuvor aufgefallen war, doch lag jetzt nicht mehr der Illusionszauber darüber, der den eigentlichen Zustand des Bilds verborgen hatte. Wüste Schnitte wie von den Krallen einer rachsüchtigen Bestie zogen sich quer über das Bild und machten das Gesicht unkenntlich.
Wer hatte das Bild zerstört? Und warum von allen Gemälden des Hauses ausgerechnet dieses? Rhosmari wusste es nicht. Doch erinnerte der Anblick sie daran, dass die Kaiserin trotz ihrer freundlichen Worte und ihrer Höflichkeit bereit war, Gewalt anzuwenden, wann immer es ihr passte – und die Gewalt durch Lügen zu verschleiern. Rhosmari unterdrückte einen Schauer, stieg die Treppe vollends hinunter und ging zum Speisezimmer.
Silbernes Besteck schimmerte auf weißem Leinen und Kerzen tauchten das Zimmer in goldenes Licht. Die Kaiserin saß am Kopfende des langen Tisches, mit den beiden Schwarzen Flügeln zu ihrer Rechten und einer weiblichen Fee mit hellen, seidig glänzenden Haaren zu ihrer Linken. »Da bist du ja«, sagte sie, als Rhosmari eintrat. »Unser Ehrengast. Nimm bitte Platz.«
Rhosmari zog sich einen Stuhl am unteren Ende des Tisches heraus, so weit von der Kaiserin entfernt, wie es möglich war, ohne das Zimmer zu verlassen. Kaum hatte sie sich gesetzt, da ging eine Nebentür auf und Sarah kam herein. In den Händen hielt sie eine dampfende Suppenterrine. Sie stellte sie auf den Tisch und begann umständlich, Suppe in die Teller zu schöpfen.
»Bouillabaisse«, sagte die Kaiserin. »Ganz vorzüglich. Magst du Fisch und Meeresfrüchte, Rhosmari? Isst man das bei euch auch?«
Am liebsten hätte Rhosmari die Frage nicht beantwortet. Sie wollte überhaupt nicht sprechen. Lieber hätte sie tausend stumme Mahlzeiten am Tisch ihrer Mutter eingenommen oder wäre verhungert, als mit der Frau zu plaudern, die Llinos versklavt und auch ihr die Freiheit geraubt hatte.
Zum Glück schien ihr Schweigen die Kaiserin nicht zu kränken. Stattdessen wandte sie sich an die Fee neben ihr. »Und wie ist es dir heute ergangen?«
»Ich habe drei Abtrünnige aufgespürt«, kam die stolze Antwort. »Sie konnten zwar entkommen, aber zuvor habe ich ihnen noch Blut abgenommen.« Sie langte in die Jackentasche, doch die Kaiserin unterbrach sie mit einem Kopfschütteln.
»Nicht bei Tisch, Veronica«, sagte sie. »Denk an unseren Gast.«
Veronicas Wangen verfärbten sich rot. Sie sah Rhosmari geradezu hasserfüllt an, zerkrümelte mit der Hand ein Stück Brot und ließ es in die Suppe fallen. »Natürlich, Majestät.«
Die alte Frau ging währenddessen um den Tisch, stellte Körbe mit knusprigem Brot an die beiden Enden und schenkte Wein und Wasser in die Gläser. Rhosmari beobachtete sie verwirrt und ein wenig beunruhigt. Menschen hatten keine wahren Namen wie Feen. Man konnte sie durch Magie verwirren, damit sie Dinge vergaßen. Sie zu beherrschen war dagegen schwerer. Und selbst die mächtigste Fee konnte ein Haus der Menschen nur betreten, wenn sie dazu eingeladen wurde. Die Frau musste die Kaiserin also freiwillig aufgenommen haben. Wusste sie, wie sehr die Kaiserin die Menschen verachtete, oder war es ihr egal?
»Das wäre dann alles, Sarah«, sagte die Kaiserin, und die Frau zog sich unterwürfig zurück und ließ die Feen allein.
»Ihr habt sie gut ausgebildet«, sagte Corbin und nippte an seinem Wein. »Ich habe seit Jahren nicht mehr so ausgezeichnet gegessen und getrunken. Aber stört es Euch nicht, sie immer in Eurer Nähe zu haben?«
»Sie kann nichts für ihr Alter«, erwiderte die Kaiserin. »Ich bin eher beeindruckt, dass sie sich so gut hält. Du isst ja gar nichts, Rhosmari. Schmeckt es dir nicht?«
Rhosmari starrte auf ihre Suppe. Sie duftete köstlich, und der Magen zog sich ihr zusammen vor Hunger. Aber sie konnte sich nicht überwinden, davon zu essen.
»Oder hat dir unser Gespräch den Appetit verdorben?«, fuhr die Kaiserin fort. »Magst du
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