Richard Castle
Gleisen in diesem Bereich abgesunken war. Das schwache Licht vor ihr ließ sie hoffen, dass sie sich der Geisterstation näherte und dort vielleicht ein paar Notlampen brannten. Doch zu ihrem Schreck wurde das Licht schnell heller, und der Boden begann leicht zu beben. Dann durchbrachen Scheinwerfer die Dunkelheit im Tunnel vor ihr und ließen die Gleise schimmern, während die beiden strahlenden Lichtpunkte direkt auf sie zurasten. Nikki befand sich am denkbar schlechtesten Ort: zwischen zwei Bahnsteigen, während ein Zug heranfuhr.
Sie bereitete sich darauf vor, über das dritte Gleis auf die mittleren Schienen zu springen, doch genau in dem Moment, in dem ihr dieser Gedanke kam, raste ein Downtown-Expresszug über diese Gleise und schnitt ihr den Fluchtweg ab. Nikki wusste nicht, wie weit der Bahnsteig noch entfernt war, aber sie hatte das Gefühl, schon eine lange Strecke zurückgelegt zu haben, also lief sie auf den herannahenden Zug zu und sprang über die Schwellen, als würde sie einen Hindernisparcours in einem Footballtrainingslager absolvieren. Die Scheinwerfer wurden großer und durchdringender. Das leise, ferne Grummeln wurde zu einem ohrenbetäubenden Donnern. Luft, die von der Vorwärtsbewegung der U-Bahn auf sie zugeschoben wurde, schlug ihr ins Gesicht.
Die Scheinwerfer erhellten auch die Geisterstation, die plötzlich auf der linken Seite erschien. Aber war sie nah genug, um sie vor dem herannahenden Zug zu erreichen?
Während sie durch die Berechnung ihrer Entfernung vom Bahnsteig abgelenkt war, blieb die Spitze ihres Schuhs an einer Bahnschwelle hängen, die sie nicht richtig eingeschätzt hatte, und Nikki stolperte nach vorn. Sie fragte sich, ob die Erde unter den Gleisen tief genug abgesunken war, um den Zug über sie hinwegfahren zu lassen, falls sie hinfiel.
Doch Nikki musste es nicht herausfinden. Sie gewann ihr Gleichgewicht zurück. Keuchend sprang sie auf die Kante des Bahnsteigs zu. Aber sie war zu hoch für sie, um hinaufzuspringen. Der Zug war nur noch Sekunden entfernt. Seine strahlenden Scheinwerfer machten die Nacht im Tunnel zum Tag. In diesem Moment entdeckte Nikki die metallene Wartungsleiter, die in den Beton eingelassen war. Sie klammerte sich daran fest und griff nach dem Geländer.
Heat rollte sich in der Sekunde auf den Bahnsteig, als der Zug der Linie eins nach Uptown an ihr vorbeidonnerte. Der Zug wirbelte einen Schwall Wind auf und verursachte einen so ohrenbetäubenden Lärm, wie sie ihn in all ihren Jahren in New York noch nie erlebt hatte. Sie konnte von Glück reden, dass sie noch am Leben war, um diesen Lärm zu hören.
Der Zug fuhr weiter, und der Wind und der Lärm ließen schnell wieder nach. Zwei Blocks entfernt kreischten die Bremsen, als er an dem Bahnhof hielt, den sie gerade verlassen hatte. Nikki rollte sich herum und setzte sich auf, um wieder zu Atem zu kommen und sich von dem Schmerz in ihrem Knie zu erholen, den ihr hektischer Aufstieg an der Leiter verursacht hatte. Sie bewegte probehalber ihre Finger, und sie schienen nicht gebrochen zu sein, auch wenn ihr ein stechender Schmerz verriet, dass sie ein wenig Haut eingebüßt hatte. Sie benutzte ihre Taschenlampen-App, um ihre Hose auf Blut zu untersuchen, fand jedoch keins. Sie entdeckte lediglich einen Fleck Schienenschmutz an ihrem Knie, genau wie bei Nicole Bernardin.
Heat rappelte sich auf, ließ ihr Licht durch die Geisterstation schweifen und erblickte eine Welt aus Gegensätzen. Einerseits ließen die Bauweise und die Ausstattung vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts den Bahnhof noch genau so wirken wie an dem Tag, an dem er versiegelt worden war: ein verschnörkelter Fahrkartenschalter; eine alte Maschine, um die Fahrkarten nach dem Eintritt zu entwerten; Befestigungen an der Decke für einzelne Glühbirnen statt für Leuchtstoffröhren; reihenweise Deckenmalereien; ein aufwendig verziertes Geländer an der Treppe, die von dem zugemauerten Eingang vom Bürgersteig herunterführte; ein eisernes Rolltor, dass der Bahnhofsmitarbeiter für die Fahrgäste hochschob, die aus den Zügen stiegen; eine Terrakottaplatte an der Wand, in die die Zahl 91 als Relief eingearbeitet war, um die Station zu benennen. Doch die Romantik der stehen gebliebenen Zeit war von diversen Verunstaltungen zerstört worden.
Fast jede Oberfläche des Bahnhofs war mit Graffiti beschmiert: die Wandkacheln; die Geländer; die Stützpfeiler. Getränkedosen und zerbrochene Wein- und Bierflaschen bedeckten den Boden,
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