Richard Castle
aussehender Gangster aus Uptown, dessen Hals und Arme voller furchteinflößender Tätowierungen waren, tippte Heat auf die Schulter. Dann bot er an, die Gehhilfe der alten Frau zu tragen. Willkommen in New York City in einer Notsituation.
Am oberen Ende der Treppe machte sich Sylvia zum nächsten Barnes & Noble auf und bedankte sich trällernd bei Heat, Rook und dem Gangster, der gelassen in Richtung Juilliard aufgebrochen war. Nikki bemerkte, dass er eine Klarinettentasche über der Schulter hatte.
Als sie durch den Dante Park gingen, wo der Broadway die Columbus Avenue kreuzte, entdeckten sie eine kleine Gruppe Demonstranten, die sich unter der Zeitskulptur von Philip Johnson versammelt hatte und ihnen Warnungen über drohendes Unheil zurief, für die das Erdbeben ein Omen gewesen sei. Einer von ihnen wedelte energisch mit einem selbst gebastelten Schild herum, als Nikki an ihm vorbeiging. „Das Ende ist nah!“, stand darauf. Als sie die Straße zum Restaurant überquerten, hielt sie inne, um sich die Worte noch einmal anzusehen und hoffte, dass sie der Wahrheit entsprachen. Dann ergriff Jameson Rook ihren Ellbogen und beendete damit ihre Grübeleien.
Das P. J. Clarke’s am Lincoln Square hatte erst vor zwei Jahren eröffnet, strahlte aber bereits den Charme einer alten New Yorker Kneipe aus. Es war die Art von Lokal, wo man einen großartigen Burger und ein Bier bekommen oder etwas Eisgekühltes aus der Frischetheke bestellen konnte, ohne dass man seine Krankenkassenkarte dabeihaben musste. Das ursprüngliche P. J.’s, das vor über einem Jahrhundert auf der East Side eröffnet hatte, war die Kneipe, in der sich Don Draper und die anderen Mad Men trafen, und auch echte Berühmtheiten wie Sinatra, Jackie-O und Buddy Holly waren dort zu finden gewesen. Letzterer hatte dort seiner Frau bei ihrer ersten Verabredung einen Heiratsantrag gemacht. Als Nikki Rook über den abgenutzten Holzfußboden zu ihrem Tisch folgte, entdeckte sie nur ein bekanntes Gesicht. Er war keine Berühmtheit, aber sie bekam trotzdem weiche Knie.
Carter Damon mochte sich aus dem Dienst beim NYPD zurückgezogen haben, aber ein Polizist wurde seine Gewohnheiten nicht so schnell los, weshalb er mit dem Rücken zur Wand saß, damit er den Raum über den Rand seiner Bloody Mary im Auge behalten konnte. Er stand auf, um ihnen beiden die Hand zu geben, doch sein Blick blieb auch dann noch auf Nikki gerichtet, als er Rooks Hand ergriff. Diesem Blick haftete etwas Gebrochenes an, etwas, das für sie nach Traurigkeit oder Verlegenheit aussah oder vielleicht auch nach Wodka. Möglicherweise war es eine Kombination aus allen drei Dingen.
„Sie sind erwachsen geworden“, sagte Damon, nachdem sie Platz genommen hatten. „Ich bin nur älter geworden.“ Sicher, in seinem kurzen dunklen Haar und dem Polizistenschnurrbart war nun mehr Weiß zu sehen, und sein Gesicht war ein wenig faltiger, aber auch mit fünfzig hatte Damon immer noch den durchtrainierten Körper eines Mannes, der sich fit hielt. Er passte haargenau zu dem Bild, das sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, seit sie ihm in der schlimmsten Nacht ihres Lebens zum ersten Mal begegnet war.
„Ihr Verlust tut mir leid“, waren seine ersten Worte gewesen. Nikki, die damals neunzehn Jahre alt gewesen war, hatte von ihrem Platz auf dem Wohnzimmerstuhl neben dem Klavier zu seinem Gesicht aufgesehen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er näher gekommen war. Wie in einem Nebel gefangen starrte sie auf das Blut ihrer Mutter, das sich immer noch feucht, aber mittlerweile kühl auf ihrer Jeans befand. Nikki hatte den Körper ihrer Mutter auf dem Küchenboden in ihrem Schoß gehalten, bis die Sanitäter und die Polizistin sie schließlich überreden konnten, mit ihnen zu kommen. Als sich Detective Damon ihr schließlich vorstellte, waren hinter ihm in der Küche Kameras aufgeblitzt, und sie war bei jedem einzelnen Blitz zusammengezuckt. Dann erklärte er ihr, dass er der Detective sein würde, der in diesem Verbrechen ermittelte, und das ausschlaggebende Wort – „Verbrechen“ – klang dabei sehr deutlich, wie eine Kette aus Blitzen. Es fuhr durch ihren Körper wie ein elektrischer Schlag, riss sie aus dem Nebel und versetzte sie in einem Alarmzustand, verschaffte ihr eine übermäßige Klarheit, die dafür sorgte, dass sich jedes noch so winzige Detail in ihre Erinnerung einbrannte, als wäre es eine digitale Videoaufnahme. Ihr fiel seine goldene Dienstmarke auf, die an der Brusttasche
Weitere Kostenlose Bücher